Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?
Alessa Grande: Ich habe 2012 damit begonnen, auf Reisen zu fotografieren. Ich war in Amerika, in Italien, Spanien und Ägypten. Meine Spiegelreflexkamera habe ich immer dabeigehabt. Ich schaue gern durch den Sucher und fühle mich dabei wie in meiner eigenen Welt. Ich hatte ein gutes Zoomobjektiv, das war total praktisch, weil ich unbeobachtet Leute fotografieren konnte. Ansonsten habe ich sehr viel moderne Architektur fotografiert, ich habe mich schon immer für spannende Perspektiven interessiert.
Mittlerweile sind auf Ihren Fotos hauptsächlich Menschen zu sehen.
Ein paar Jahre später habe ich angefangen, meine Schwester und meine Freunde zu fotografieren. Mit meiner Schwester habe ich das Fotografieren gelernt, sie hat sich immer gern fotografieren lassen. Seitdem ich das erste Mal Menschen fotografiert habe, habe ich gespürt, dass mich das am meisten interessiert. Ich wollte schon mein ganzes Leben lang wissen, wie der Mensch so tickt. Die Kamera war mein Weg, Zugang zu den Menschen zu bekommen. Wenn man jemanden fotografiert, lernt man ihn unheimlich schnell kennen, weil das etwas sehr Intimes ist.
Wie nimmt man jemandem die Nervosität beim Fotografiert-Werden?
Ich fotografiere keine Models, sondern ganz normale Menschen. Eine Ausnahme mache ich bei Künstlern oder Akrobatinnen. Die meisten sind nervös, jeder braucht eine Aufwärmphase. Ich gehe sehr sorgfältig und behutsam mit der Situation um, dadurch öffnen sich die Menschen. Da ich auch Erfahrung vor der Kamera habe, weiß ich, dass man sehr viel von sich gibt - ganz egal, ob man dabei ausgezogen oder angezogen ist.

Wie gefallen sich die Models auf den Bildern?
Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung unterscheiden sich oft. Mit sich selbst ist man sehr kritisch. Es werden eher die perfekten, makellosen Fotos ausgewählt. Dadurch merke ich, wie sich meine Motive sehen oder sehen wollen. Mir gefallen oft gegenteilige Fotos. Ich liebe Makel, ich will Poren sehen, ich will Narben sehen. Ich bearbeite meine Bilder wenig, die meisten sind so, wie sie aus der Kamera kommen.
Wo fotografieren Sie?
Ich arbeite sehr viel mit natürlichem Licht. Studiofotos gefallen mir nicht so gut. Meine Fotos müssen nicht perfekt sein, sie sollen echt sein. Ein typisches Fotostudio ist nichts für mich, ich war ein paar Mal eingemietet, aber es ist mir schnell langweilig geworden. Ich bin lieber in der Natur oder in irgendwelchen coolen Hotels und außergewöhnlichen Locations. Die müssen ständig wechseln. Ich will immer etwas Neues erkunden, eine Routine gibt es für mich nur in der technischen Vorgehensweise des Fotografierens.
Wie fotografieren Sie?
Um ehrlich zu sein, langweilt mich die Technik. Für mich ist der Vibe, der beim Fotografieren entsteht, viel wichtiger. Ich würde den Moment verpassen, wenn ich meine ganze Energie dafür geben würde, dass technisch alles perfekt eingestellt ist. Ich finde es wichtig, bei der Person zu sein, die gerade vor meiner Kamera steht. Mein Kamera-Equipment ist sehr bescheiden. 2016 habe ich mir eine Vollformatkamera gekauft, die Nikon D750. Mit der fotografiere ich noch heute und ich habe ganz viele alte Nikon-Objektive von meinem Papa, der eine große Inspiration für mich ist. Von ihm habe ich mir auch die erste Kamera ausgeliehen.
Wie erzeugen Sie Ihren Stil?
Mir gefallen Schwarz-Weiß-Bilder sehr gut, weil sie reduziert sind und wenig vom Motiv ablenken. Außerdem mag ich Unschärfe sehr gern. Bei mir liegt immer etwas im Verborgenen. Ich habe zwei Lieblingsobjektive: eine 20-Millimeter- Festbrennweite und eine 50-Millimeter- Festbrennweite. Ich stelle mich gern auf einen Look ein, verwende dazu ein Objektiv und wechsle dann. Beim 20-Millimeter-Objektiv ist alles sehr verzerrt, selbst wenn ich Porträts mache, schaut der Kopf anders aus als bei dafür geeigneten Objektiven. Kein Fotograf würde solche Porträts machen, aber mir gefällt es, weil es anders ausschaut. Wenn ich für normale Shootings oder Bewerbungsfotos gebucht werde, arbeite ich natürlich nicht so.
Wie ist es beruflich gelaufen?
Ich habe lange nicht gewusst, was ich machen möchte. Ich war ein halbes Jahr als Au-pair in Kanada, habe ein Semester lang Russisch und Politikwissenschaften studiert und war dann zwei Jahre am Tourismuskolleg in Klessheim. Dann habe ich Soziologie in Salzburg studiert und den Master gemacht. Das Fotografieren war bis dahin nur ein Hobby für mich. 2017 habe ich mich mit einer Werbeagentur ("Noch eine Agentur") selbstständig gemacht. Die Agentur läuft sehr gut, ich habe mich auf Social-Media-Marketing spezialisiert.

Aus Ihrer Fotografie ist irgendwann Kunst geworden. Wie kam es dazu?
Im letzten Jahr habe ich ein Jahr lang mit meiner Werbeagentur pausiert und bin von Salzburg nach Wien gezogen. Mein Erspartes habe ich dazu verwendet, mich ganz der Kunst zu widmen. Ich wollte in die Kunstszene reinkommen und bin deshalb nach Wien gezogen. Dort gibt es mehr Möglichkeiten als in Salzburg. Ich habe mich in diesem Jahr ausschließlich meinen Kunstprojekten gewidmet und keine fremden Aufträge angenommen. Die meisten meiner Bilder sind bei freien Projekten entstanden, das heißt, ich habe meinen Darstellern nichts gezahlt und sie haben mir auch nichts gezahlt.
Wie sind Sie zu den Darstellern gekommen?
Weil Lockdown war, bin ich die meiste Zeit in meiner Wohnung gewesen. Das Kontakte-Knüpfen war nicht einfach. Ich bin auf die Straße gegangen und habe Leute gefragt, ob sie sich fotografieren lassen wollen. Das Ansprechen ist mir nicht leichtgefallen, aber ich habe es als Challenge gesehen. In zwei Tagen bin ich so zu zehn Motiven gekommen. Normalerweise lerne ich meine Models über Freunde kennen oder über Instagram, aber in Wien habe ich niemanden gekannt.
Sie stehen auch selbst vor der Kamera?
Ja, in Wien beispielsweise habe ich einen Fotografen kennengelernt, mit dem ich ein Projekt gemacht habe: Wir haben uns mit Statuen fotografiert. Die ursprüngliche Idee war, mehrere Leute zusammen zu fotografieren, aber wegen Corona war das nicht möglich. Deswegen habe ich Statuen als Interaktionspartner genommen. Das war interessant, weil die teilweise so lebendig wirken und intensiv schauen. Normalerweise lassen sich Fotografen selbst nicht gern fotografieren. Ich mag beides gern. Wenn ich fotografiert werde, muss ich mich aber erst darauf einlassen. Hinter der Kamera fühle ich mich wohler, das ist für mich angenehmer. Ich mit meiner Kamera, das ist eine Einheit.
Wie öffnen sich Fremde?
Ich brauche den Menschen nicht perfekt, ich will ihn, wie er ist. Ich glaube, das spüren meine Fotomodelle, dadurch fällt eine Last von ihnen ab. Wenn ich Akrobatinnen fotografiere, sind sie es gewohnt, dass sie performen müssen. Ich will das aber nicht, ich will, dass alles locker ist. Meine besten Fotos entstehen spontan, im Moment. Man spürt, dass sie echt sind, das ist wichtig für das Bild. Für jeden, der Menschen fotografiert, ist es eine Herausforderung, eine angenehme Atmosphäre zu erschaffen.
Tut man sich als Frau leichter?
Ich kann mir gut vorstellen, dass es anders ist, wenn ein Mann fotografiert. Wobei in jedem Menschen eine männliche und eine weibliche Kraft steckt. Es kommt nicht auf das Geschlecht an, nur darauf, welche Kraft stärker ausgeprägt ist. Ich glaube, bei mir selbst kommt beim Fotografieren meine weiche, weibliche Seite zum Vorschein, weil das Fotografieren für mich etwas Weiches ist. Aber egal, ob ich einen Mann oder eine Frau fotografiere, auch bei der fotografierten Person kommt dann eine stark weibliche Kraft durch. Ich weiß nicht, warum, das entsteht einfach so.
Können Sie die Stimmung, die beim Fotografieren entsteht, beschreiben?
Es sind schon viele intime Momente entstanden. Einmal hat jemand zum Weinen angefangen. Ich habe erst nicht gewusst, wie ich damit umgehen soll. Es ist schön, wenn sich Menschen so öffnen, und es ist vollkommen in Ordnung, wenn Emotionen hochkommen. Weinen ist etwas sehr Intimes, in unserer Gesellschaft eigentlich ein Tabuthema. Ich kann nicht genau sagen, warum diese emotionale Stimmung entsteht, es ist etwas, das ich nicht plane. Es kommt darauf an, wie offen ich in der Situation bin und wie offen der andere ist. Meiner Meinung nach sollte man mehr Emotionen zulassen.
Warum sind Emotionen so wichtig?
Sie vermitteln so viel. Ich liebe Emotionen, jede Art von Emotion. Ich mag die Melancholie sehr gern, dieses Dramatische, Verzweifelte, das Traurige. Die schönste Emotion ist für mich die Verletzlichkeit. Obwohl mir fröhliche Gefühle auch sehr gut gefallen und ich ein positiver Mensch bin, laufen meine Bilder oft auf tiefe, schwere Stimmungen hinaus. Wenn ich fotografiere, übertragen sich meine Emotionen auf die Person, die ich fotografiere. Die Leute werden dann selbst so. Das vermischt sich. Ich glaube, dass das oft unbewusst geschieht. Ich kann es mir rational nicht erklären, aber irgendwie ist diese Situation immer wieder ähnlich, egal, mit wem ich Fotos mache. Vermutlich, weil ich diese Gefühle selbst am liebsten sehe. Fotografieren passiert in einem geschützten Raum, ich kann mich öffnen und die Darsteller können sich auch öffnen.

Ist die Verletzlichkeit ein Grund, warum Sie Akt fotografieren?
Ich habe immer gespürt, dass ich Menschen in ihrer pursten Form fotografieren möchte, habe mich aber früher nie getraut. Es wäre mir unangenehm gewesen. Während des Lockdowns habe ich zwei Monate lang keinen Menschen gesehen. In dieser Zeit habe ich begonnen, mich selbst zu fotografieren. Von Beginn an habe ich mich nackt fotografiert. Ich habe nicht darüber nachgedacht, warum ich das tue, ich hatte einfach Lust dazu. Im Nachhinein würde ich sagen: Ich habe die Erfahrung machen wollen, weil ich wissen wollte, wie sich das anfühlt. Ich möchte mich immer in andere hineinfühlen, bevor ich sie fotografiere.
Gefallen Ihnen Ihre eigenen Bilder?
Ja. Wenn ich Fotos von mir selbst mache, sind die in meinem eigenen Stil. Das ist eine Einheit und harmoniert miteinander. Mein Anspruch ist, dass meine Bilder echt sind. Ich muss auf den Fotos nicht perfekt ausschauen. Wenn mich wer anderer fotografiert, ist das schon anders. Ich lasse mich deshalb nur von bestimmten Personen fotografieren. Es ist wichtig, auf eine gemeinsame Ebene zu treffen.
Wie ist es weitergegangen?
Ich habe etliche Selbstporträts gemacht, das hat mir Spaß gemacht. Die Fotos waren wie ein Weg zu meinem Selbst. Dann war der erste Lockdown vorbei und ich habe begonnen, wieder andere Menschen zu fotografieren - diesmal nackt. Am Anfang habe ich die Nacktheit, wie die meisten Menschen, mit Erotik verbunden und auf erotische Art und Weise erforscht. Ich habe das total ausgereizt. Mein letztes größeres Projekt war mein "Vulva Phallus Art Project". Ich habe Nahaufnahmen von Penissen und Vaginen gemacht, die für mich stellvertretend für die männliche und weibliche Kraft stehen. Mit diesem Thema habe ich mich im letzten Jahr intensiv auseinandergesetzt.
Wie ist die Idee für dieses Projekt entstanden?
Die Idee habe ich schon lang gehabt. Beim Fotografieren geht es mir sehr stark um Erfahrung, die ich selbst machen will und die auch die Leute machen wollen, die zu mir kommen. Es geht nicht so sehr um die Fotos, die rauskommen, es ist eher ein Experiment. Wie wird es sein, so intime Bereiche vom Körper zu fotografieren? Die Fotos sind alle am gleichen Ort entstanden. Ich habe ein Hotelzimmer gemietet und fünf Wochen lang fotografiert.
Warum die Nacktheit?
Nacktheit ist für mich das Purste, was es gibt. So, wie der Mensch ist. Da kann man nichts mehr verschönern, nichts verstecken, da ist man einfach man selbst. Das ist einfach echt. Wenn man nackt ist, ist jeder auf eine Weise gleich. Die Menschen sind anders, wenn sie sich ausziehen.
Gab es einen Unterschied beim Fotografieren von Männern und Frauen?
Mit den Frauen war es sehr vertraut. Es war total spannend, sie sind oft mit interessanten Geschichten zu mir gekommen. Es ist um Äußerlichkeiten gegangen und um den Druck der Gesellschaft, zum Beispiel dahingehend, wie eine Vagina auszusehen hat. Eine Frau, die sich im Intimbereich hat operieren lassen, hat sich fotografieren lassen. Es war wie eine Aufarbeitung. Wir haben sehr lange gesprochen.
Wie war es mit den Männern? Ist da Erotik aufgekommen?
Das war interessanterweise nicht so. Die Männer waren im Vergleich zu den Frauen nicht so entspannt. Da stand schon oft die Performance im Vordergrund. Sie waren sehr auf sich konzentriert, haben sich reingesteigert. Ich hoffe, ich konnte ihnen diesen Druck ein wenig nehmen. Denn mir ging es bei dem Projekt nicht darum, dass gute Fotos entstehen, sondern sich mit seinem eigenen Körper auseinanderzusetzen und dankbar für ihn zu sein.
Wie fällt Ihr Resümee zum Projekt aus?
Es war eine total gute Erfahrung, da es sehr wertschätzend und respektvoll abgelaufen ist. Ich glaube, Menschen bekommen durch solche Projekte mehr Zugang zu sich selbst und können sich annehmen, wie sie sind. Das Fotografieren hat einen Beitrag dazu geleistet. Das Interessante war, dass sich bei mir noch nie so viele Leute gemeldet haben. Ich habe es als Kompliment genommen, weil mir die Leute vertrauen. Die Fotos sind anonym, ich plane eine Ausstellung in Salzburg und bin noch auf der Suche nach einer geeigneten und außergewöhnlichen Location.
Was fotografieren Sie jetzt?
Gerade mache ich eher ruhigere Fotos. Zwar sind meine Motive nackt, aber am liebsten fotografiere ich so, dass sie trotzdem verhüllt sind. Momentan habe ich das Gefühl, dass ich den nackten Körper beschützen möchte, weil er so verletzlich ist.
Bedient ein Akt nicht ein veraltetes Frauenbild oder ist gar sexistisch?
Ich glaube, viele sehen es so. Ich finde das nicht, ich mache es so, weil der nackte Körper für mich die volle Offenbarung ist, die reinste Form des Menschen. Ich denke nicht alle Szenarien im Vorhinein durch, das würde den kreativen Fluss stören. Die Nacktheit zu fotografieren war für meine Entwicklung wichtig. Ich will an meine Grenzen gehen und ich will das mit anderen Menschen zusammen machen. Es ist sicherlich provokant, aber ich mag die Provokation. Meine Sprache sind die Bilder und die machen was mit den Menschen. Beim Fotografieren gibt es für mich keine Regeln, das ist etwas komplett Freies. Wenn ich fotografiere, dann fühle ich mich frei, dann will ich nichts verstecken.
Zur Person
Alessa Grande ist ein Künstlername. Mit bürgerlichem Namen heißt die Salzburgerin Alexandra Großbointner. Ihrem Papa und ihrer Oma gefällt der Name nicht, sie meinen, das klinge überheblich. Für die 32-Jährige war es aber wichtig, einen Künstlernamen zu haben.
Soll sie den Stil ihrer Fotos beschreiben, fallen Grande Begriffe wie ausdrucksstark, dramatisch, mystisch, emotional und geheimnisvoll ein.
Ihre Wohnung ist ohne Bilder. Zwar hat sich Alessa Grande ihre Bilder entwickeln und Rahmen anfertigen lassen, sie hängt die Fotografien aber nicht auf, weil sie noch auf der Suche nach einem kreativen Ort ist. Grande träumt davon, ihre Bilder zu verkaufen und sie in tollen Locations bestaunen zu können.