Es gibt viele gute und fundierte Fachbücher zur kindlichen Entwicklung. Doch meines Wissens fehlt ein Buch, das folgende aktuelle Familiensituation aufgreift und in der Bedeutung für das Zusammenleben beschreibt: analoge Eltern und digitale Kinder", ist Nelia Schmid König überzeugt. Das Problem: "Zwei Generationen müssen das Kunststück schaffen, eine gemeinsame Verständigungsebene zu finden, obwohl sie in einer jeweils anderen soziokulturellen Sprache und Welt sozialisiert worden sind. Das hat es so noch nie gegeben."
Analoge Eltern vs. digitale Kinder: Familie im Zeitalter der Digitalisierung
Was brauchen Kinder - und wie soll man mit den Herausforderungen der Digitalisierung in Familien umgehen?

"SN/Die jetzigen Kinder und Jugendlichen sind durch die sozialen Medien nichtfamiliären Einflüssen ausgesetzt, wie die Familien sie noch nie stemmen mussten."
Schmid König ist Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Paare und arbeitet als Supervisorin für Pädagoginnen und Pädagogen. Ihr neues Buch widmet sich unter anderem der Medienkompetenz in der Familie: "Analoge Eltern - digitale Kinder. Eine Herausforderung für Familien" (Mabuse-Verlag). "Die jetzigen Kinder und Jugendlichen sind durch die sozialen Medien nichtfamiliären Einflüssen ausgesetzt, wie die Familien sie noch nie stemmen mussten." Und zu diesen medialen Außeneinflüssen gehören bekanntlich nicht nur anregende und aufbauende, sondern auch zerstörerische. Die Psychoanalytikerin stellt die Frage: "Wie kann die analoge Welt auch als eine physisch erfahrbare und sinnliche Welt über alle Entwicklungsstufen hindurch vom Baby zum jungen Erwachsenen aufrechterhalten werden, ohne die digitalen Veränderungen in ihrer Wirkung auf das Familienleben ausblenden zu müssen?" Ihr Werk startet beim Thema "Liebespaar" und dem "Kinderwunsch", geht über die ersten Lebensjahre samt ihren Herausforderungen bis hin zu den jungen Erwachsenen, die ausziehen, und den Eltern, die schlussendlich wieder in der "leeren" Wohnung sitzen.
Kinder ganzheitlich fördern und entwickeln
Mehr als nur Schülerstatus: "Manchmal möchte ich verzweifeln, wenn ich wieder ein Elternpaar vor mir sitzen habe, das im eigenen Kind nur das Schulkind sieht - und sonst nichts", sagt Schmid König. "Hier passiert dieselbe fatale Reduktion, wie sie auch bei Erwachsenen ins Unglück führt. Erwachsene, die sich ausschließlich über den Beruf definieren, für ihn alles tun, landen sehr oft im Burn-out." Die Autorin legt ans Herz: "Befreien Sie, liebe Eltern, Ihre Kinder von der Schmalspurkindheit. Die ersten so kostbaren 20 Jahre des Lebens ausschließlich mit Schulstoff zu verbringen, ist genau das: eine schmale und schale Lebensspur." Die Hoffnung, dass die "so schmal und einseitig sich vorwärtsbewegenden Kinder dann plötzlich ihren inneren, nie gepflegten und ausprobierten Reichtum nach dem Abitur finden, ist Illusion."
Digitale Nutzung mindert kindliche Kreativität
Das Thema "Handy" im Grundschulalter ist ein weiterer Faktor, den die Psychoanalytikerin mit Skepsis beobachtet. "Findet nicht gerade eine erschreckende Einebnung der kindlichen Talente und Neigungen statt? 2022 hatten 36 Prozent der Acht- bis Neunjährigen ein eigenes Handy, bei den Zehn- bis Elfjährigen sind es schon 58 Prozent, 32 Prozent haben ein eigenes Tablet. Alle sind im neuen digitalen Universum unterwegs. Alle schauen auf das Display, also nach außen." Schmid König plädiert dafür, die kindlichen Talente wahrzunehmen und die fortschreitende Orientierung des Kindes an digitalen Medien nicht einfach laufen zu lassen. "Es ist die Pflicht der Eltern, ihren Kindern beim Auffinden eines Hobbys, das ganz ihres ist, zu helfen. Wer in der Pubertät ein Hobby mit Leidenschaft betreibt, ist auf der sicheren Seite", ist die Autorin überzeugt. Ein Hobby zu haben, sei essenziell für eine gute kindliche Entwicklung - es ist ein Wohlfühlort, der Identität und Sicherheit vermittelt. "Manchmal ist es sogar ein Rückzugsort, weg vom bloßen schulischen Funktionieren."
Jugendliche nutzen Smartphones intensiv: Handy ist teil der Identität
Im Jugendalter spielen Influencerinnen, TikToker und Co. eine Rolle, aber auch Computer- und Onlinespiele. "Es sind vor allem die männlichen Jugendlichen, die Computerserien als Freizeitbeschäftigung favorisieren. Einige unter ihnen tun dies so sehr und ausschließlich, dass nichts anderes mehr in ihrer Freizeit Platz findet", erläutert die Schweizerin. Und weiter: "Die weiblichen Jugendlichen sind vor allem Smartphone-Benutzerinnen. Doch unabhängig vom Geschlecht werden Social-Media-Plattformen wie TikTok, Instagram, Snapchat, Pinterest, Twitter, YouTube, WhatsApp usw. auf dem Smartphone genutzt." 96 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren würden laut neuesten Forschungsergebnissen das Handy täglich oder mehrmals die Woche benutzen, das Internet 94 Prozent. Für Eltern ist es oft erstaunlich, wie viel Zeit Jugendliche am Handy verbringen. "Das Handy ist nicht nur das kostbarste Objekt, es ist ein Selbstobjekt geworden für die Jugendlichen. Es gibt sie nicht mehr ohne Handy. Sie sind ihr Handy. Das Handy ist ein Teil ihrer Identität", sagt die Psychoanalytikerin. Im Minutentakt rauschen Videoclips, Memes und Sticker herein und überschwemmen das jugendliche Gehirn. Das gab es so noch nie, ist die Autorin sicher: "Jetzt haben die Bildung und auch die Erziehung in erschreckendem Maß an Gewicht und Kontrolle über für Kinder und Jugendliche Taugliches verloren." Die Sprösslinge würden dadurch ihre Kompetenz in persönlichem Kontakt verlieren. Schmid König ist der Meinung, dass Eltern anfangen müssen, "die Digitalisierung ihrer Kinder nicht einfach auszuhalten, sondern sich selber mit den Schattenseiten der Digitalisierung auseinanderzusetzen und diese mit ihnen zu problematisieren." Das heißt: "Analoge Werte, mit denen die Eltern noch aufgewachsen sind, müssen selbstbewusst und überzeugt im Gespräch mit den Kindern vertreten werden." Ein höchst essenzielles Ziel steht dem voran: "Das Aufrechterhalten von nichts Geringerem als der Beziehungsfähigkeit."
"Eltern sollten sich wirklich dafür interessieren, was ihre Kinder im Internet machen"
Hierzu gehört auch, dass man Kinder und Jugendliche mit ihrem Input aus dem Netz nicht alleinlassen sollte. Frei nach dem Motto "Mein Leben spielt im Internet" meint Schmid König: "Die emotionale Abstumpfung ist eine direkte Folge der digitalisierten Welt. Sie ist eine Folge des Internetkonsums unserer Kinder."
Es gehe nicht um die großartigen Informationsmöglichkeiten oder das "verniedlichende Rumdaddeln" der Kinder, "an das erschreckend viele Eltern noch glauben". Eltern sollten sich tatsächlich dafür interessieren, was ihre Kinder im Internet machen - das Einrichten eines Jugendschutzfilters reiche nicht. "Melden Sie sich bei TikTok an, liebe Eltern, nur mal für kurze Zeit", sagt Schmid König. Nur so kann man (zumindest im Ansatz) verstehen, was die Jugendlichen dort umtreibt. "In der digitalen Welt, in welcher die Jugendlichen unterwegs sind, kursieren Videos über Selbstverletzung, Demütigungen übelster Art, Challenges in Verbindung mit Entwertung und Blamage."
Politik ignoriert Gefahren aus Medien wie TikTok
Und die Jugendlichen vergessen die verstörenden Inhalte nicht, auch wenn sie es selbst glauben. Die Folge: "Sie müssen sich abhärten, um diese ständig und schnell verfügbare Netzbrutalität emotional auffangen zu können. Und sie sind allein, allein mit anderen Jugendlichen, die ebenfalls keine Weicheier sein wollen", so die Psychoanalytikerin. Ihrer Meinung nach ist es "schon ein unglaubliches Armutszeugnis, dass die Politik die Brisanz eines Mediums wie TikTok für die seelische Entwicklung unserer Jugendlichen so völlig ausblendet." Daher ihr Appell an die Eltern: "Es geht nicht, dass Sie sich verschonen lassen. Machen Sie keine Vogel-Strauß-Politik."