Venedig, Santa Lucia. Der Zug aus Österreich hat soeben die lange Eisenbahnbrücke passiert, die die historische Stadt mit dem Festland verbindet. Kurz bevor die Lokomotive sich dem Prellbock nähert, wird der Blick vieler Reisender auf das Nebengleis gelenkt. In seiner ganzen Pracht steht er da, die Waggons schimmern in dunkelblauem Lack, pfirsichfarbene Lampenschirmchen zieren die Tische in den holzgetäfelten Coupés. Eisenbahnfans wissen, wen sie vor sich haben: Hier wartet der Orientexpress, den es gleich in Richtung Paris ziehen wird. Besser gesagt die Reste davon, die unter dem Namen "Venice-Simplon-Orient-Express" von dem amerikanischen Konzern Belmond betrieben werden, der heute zum Geschäftsimperium von LVMH Moët Hennessy - Louis Vuitton gehört. An den Seiten der Waggons prangt jedoch in Messingglanz das Emblem der "Compagnie Internationale des Wagons-Lits et des Grands Express Européens" (CIWL), des 1872 gegründeten und somit ältesten europäischen Unternehmens für den Betrieb von Schlafwagen. Die Küchenbrigade wählt Obst und Gemüse aus, der Zugchef begrüßt die Reisenden, die zu Ehren des Luxuszuges und aus Respekt vor der Hochleistung des Personals in eleganter Kleidung erschienen sind. Diskret gleiten dann Lokomotive und Waggons aus dem Bahnhof. Keine Anzeigetafel hat die Anwesenheit vermerkt. Und schon sind wir mitten in eine Geschichte hineingedampft.
Werte Fahrgäste, wir begrüßen Sie an Bord unseres Zuges in die Vergangenheit und wünschen eine gute Reise. Unser nächster Halt ist Paris.
Im Frühjahr 1883 war alles vorbereitet und dann ging erst einmal alles schief: Der Orientexpress sollte zum ersten Mal vom Gare de l'Est in Richtung jener Stadt aufbrechen, die noch Konstantinopel hieß und die für europäische Reisende die verlockende Vision vom Orient war. Doch Georges Nagelmackers wurde aus ganz anderen Träumen gerissen. Der belgische Unternehmer, der unter großen technischen, politischen und finanziellen Schwierigkeiten die Idee von einem schnellen und mondänen Zug auf Schiene gesetzt hatte, musste die Jungfernfahrt wegen schwerwiegender Probleme in der Federung der Waggons absagen. An eine kurzfristige Reparatur war nicht zu denken. Die Journalisten, ohnehin schon skeptisch, wurden ausgeladen.
Nächster Halt: Belgien
Belgien hatte früh auf das neue Fortbewegungsmittel Eisenbahn gesetzt und als erstes Land in Kontinentaleuropa den Ausbau eines Schienennetzes vorangetrieben. Georges Nagelmackers kam am 24. Juni 1845 in Lüttich in einer Familie wohlhabender Bankiers auf die Welt. Er sollte Bergbauingenieur werden, war aber bald von der neuen Technik fasziniert und sah schon als junger Mann Möglichkeiten immer ein paar Stationen früher als andere.
Die Schifffahrt unter Dampf hatte zu dieser Zeit bereits wie die Hotellerie für eine zahlungskräftige Klientel auf edle Unterbringung gesetzt. Der Orientexpress war das nächste Glied in dieser eleganten Kette. Zu seinem Komfort zählten Gepäckdienste mit Abholung und Zustellung, ein Bediensteter für jeden Waggon, Heizgeräte und Lampen, funktionstüchtige kleine Badezimmer, gute Betten, an jeder Station zugekaufte frische Lebensmittel und Weine der jeweiligen Region. Die Köche zauberten in einer winzigen Kombüse Speisen auf Haubenniveau. Das Auge wurde nicht nur im Speisewagen verwöhnt. Künstler der Zeit schmückten Holzwände mit Intarsien, entwarfen Stoffe, Bettwäsche, Gläser und Porzellanservice. René Lalique etwa verfeinerte Glasreliefs und Spiegelverkleidungen. Die heute noch existierende Firma Christofle fertigte Silberbesteck.
Doch der Perfektionist Georges Nagelmackers war nicht der Mann, der sich mit schöner Hülle begnügte. Technisch befanden sich die Waggons stets auf dem neuesten Stand. Nagelmackers selbst entwarf technische Neuerungen, die eine größere Laufruhe der Waggons garantieren sollten.
Ein Netz von Werkstätten zog sich von Frankreich bis nach Asien. In Österreich etwa kümmerten sich Spezialisten in Wien-Inzersdorf um die Instandhaltung des rollenden Materials. Alle Werkstätten hielten sämtlichen Ersatz bis hin zu den Schrauben und Geschirrteilen auf Lager. Entlang der Strecke stellten zudem Gemischtwarendepots sicher, dass es nie an sauberer Wäsche, an Getränken, Tabakwaren, Konserven und Putzmitteln mangelte.
Nächster Halt: Konstantinopel. Werte Reisegäste, wir bedauern sehr die inzwischen aufgetretene Verspätung und bitten, die Unannehmlichkeit zu entschuldigen.
Nach 81 Stunden und 40 Minuten erreichte der Orientexpress auf seiner Jungfernfahrt, die im Oktober 1883 zur großen Erleichterung Georges Nagelmackers' und seiner Passagiere erfolgreich verlief, die Stadt am Bosporus. Das ist heute noch eine Sensation, eingedenk der Tatsache, dass eine Fahrt mit der Deutschen Bahn von Salzburg nach Paris je nach Anzahl der Baustellen und Pannen mehr als
zwölf Stunden dauern kann. Der Orientexpress wurde des Öfteren von Schneeverwehungen, Raubüberfällen und politischen Verwicklungen abgebremst. Doch das Wenden in Kopfbahnhöfen dauerte nicht länger als fünf Minuten - wie alte Protokolle der europäischen Fahrplankonferenz zeigen, die seit 1872 die Organisation des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs sicherstellte. Die Zollbeamten an den vielen Grenzübergängen waren zudem angewiesen, Kontrollen so kurz wie möglich zu halten. 1889 brachte die Eröffnung der direkten Strecke über Budapest, Belgrad und Sofia eine um 14 Stunden verkürzte Fahrzeit.
In Konstantinopel stiegen die Fahrgäste im Bahnhof Sirkeci aus und im Grandhotel Pera Palace ab. 1890 hatte es die CIWL gebaut, um den Komfort nicht am Bahnhof enden zu lassen. Heute noch bezaubert der Blick von der Terrasse aus über das Goldene Horn. Agatha Christie schrieb in diesem Hotel ihren Erfolgsroman "Mord im Orient-Express", der den Zug vollends zur Legende werden ließ.
Geehrte Fahrgäste, nächster Halt in zwei Minuten. Der Zug endet hier. Wir danken, dass Sie für Ihre Fahrt die "Salzburger Nachrichten" gewählt haben. Servus, auf Wiedersehen!
DER UNERSCHROCKENE PIONIER GEORGES NAGELMACKERS
Eine unglückliche Liebe stellte in Georges Nagelmackers Leben die Weichen: Früh hatte sich gezeigt, dass er eine entschlossene und unabhängige Persönlichkeit werden sollte. Gegen den Willen seiner Familie wollte er seine neun Jahre ältere Cousine heiraten. Doch in katholischen Kreisen war eine Verwandtenehe ein Tabu. Als Georges nicht umzustimmen war, schickte ihn der strenge Vater nach Amerika auf Reisen. Dort sah der junge Mann die Speise- und Schlafwagen von George Mortimer Pullman. Begeistert plante er, solche Züge auch in Europa einzuführen.
Das wurde der Anfang einer turbulenten Geschichte, die der österreichische Journalist Gerhard J. Rekel mit viel Liebe zum Detail recherchiert und als Buch veröffentlicht hat. Ihm ist es zu verdanken, dass jener Mann, der den Orient-Express erfand, der Vergessenheit entrissen wurde. "Es ist die weltweit einzige Biografie über Georges Nagelmackers", sagt Gerhard J. Rekel. Der Luxuszug ist nur das berühmteste Beispiel für Nagelmackers Umtriebigkeit. Es gelang ihm, in einem zerrissenen Europa, in dem sich gerade Nationalismen ausbreiteten und von Land zu Land unterschiedliche eisenbahntechnische Systeme grenzüberschreitende Verbindungen fast unmöglich machten, ein Netzwerk von 180 Nachtzugverbindungen zwischen Lissabon und Konstantinopel aufzubauen.
Jedes Land, jedes noch so winzige Großherzogtum hatte seine eigene Eisenbahngesellschaft, mit der Nagelmackers Unternehmen Verträge abschließen musste. "Ich habe mich während der Recherchen oft gefragt, wie der Mann das geschafft hat. Banken und Politiker haben über ihn den Kopf geschüttelt. Zwei Mal ist er in den Bankrott geschlittert. Sein Geheimnis war wohl, dass ein sehr begabter Diplomat war und groß gedacht hat. Er konnte sich gleichzeitig gut in andere Menschen einfühlen", sagt Gerhard J. Rekel.
Der lebenslange, von seiner Leidenschaftgetriebene Kampf forderte seinen Tribut: Georges Nagelmackers starb am 10. Juli 1905 in seinem Schloss Villepreux nahe der Stadt Versailles. Baudouin Nagelmackers - einer der Nachfahren der Familie - vermutet, dass Erschöpfung der Grund war, warum Georges nur knapp das 61. Lebensjahr erreichte.
Das schöne Buch von Gerhard J. Rekel ist unter dem Titel "Monsieur Orient-Express" im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.