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Schlaflos in Abu Simbel

Das Sonnenwunder des Ramses. Am 22. Oktober warten Tausende vor dem Monumentaltempel des Pharaos auf das erste Licht.

Die Derwische tanzen für die Besucher aus aller Welt vor dem Ramses-Tempel.
Die Derwische tanzen für die Besucher aus aller Welt vor dem Ramses-Tempel.
Mohammed El Bialy, der Direktor der antiken Stätten von Abu Simbel.
Mohammed El Bialy, der Direktor der antiken Stätten von Abu Simbel.
Das Sonnenfest feiern auch die Frauen mit.
Das Sonnenfest feiern auch die Frauen mit.

Der 28-jährige Takumi und seine Freundin Miyu sind voller Zuversicht. Hier, vor dem Tempel in Abu Simbel, der seit 1979 auf der Weltkulturerbeliste der Unesco steht. Denn das Pärchen aus Japan steht ganz vorn. Das heißt, nur sie und vielleicht noch mal hundert andere werden das Sonnenwunder in Echtzeit und hautnah erleben können. Für alle Nachkommenden ist die Zeit zu kurz. Das Sonnenwunder von Abu Simbel dauert gerade mal 20 Minuten, und 5000 Leute werden erwartet.
"Sonnenwunder", erklärt Mohammed El Bialy, "bedeutet, dass das Sonnenlicht bis in das rund 65 Meter hinter dem Tempeleingang gelegene Heiligtum fällt und dort drei der vier Götter beleuchtet, von rechts nach links den Sonnengott Re, Ramses II. mit mächtiger Doppelkrone und Reichsgott Amun. Nur Ptah bleibt auch in diesen 20 Minuten stets im Dunkeln. Der Gott der Dunkelheit benötigt schließlich niemals Licht." El Bialy ist Direktor der antiken Stätten von Assuan und Nubien, damit also auch für Abu Simbel zuständig, denn der Tempel liegt im südlichen Nubien, nur etwa 20 Kilometer von der Grenze zum Sudan entfernt. Dieses Schauspiel ist zwei Mal im Jahr zu bestaunen, am 22. Oktober und am 22. Februar.

Jetzt jedoch ist es 3.10 Uhr und noch stockdunkel. Seit zwei Uhr früh sind Miyu und Takumi auf den Beinen. Um drei Uhr wurde der Haupteingang der weitläufigen Anlage geöffnet und nun befinden sie und etwa hundert andere aus aller Welt sich direkt zu Füßen der vier kolossalen 22 Meter hohen Ramses-Statuen von Abu Simbel, die aus einem Steinblock gemeißelt wurden. Die Menschen hocken auf mitgebrachten Kissen, liegen auf Decken oder Hotelhandtüchern in Open-Air-Konzert-Atmosphäre. In der Schlange warten am Tempel, ein bisschen dösen oder mit den Sitznachbarn plaudern, etwa über ein paar japanische Landsleute, die 5000 Euro Bakschisch bezahlt haben, um in der Nacht vom 21. auf den 22. im Tempel meditieren zu dürfen. Um 3.34 Uhr zieht eine Hundertschaft Polizisten in Paradeuniform zum Tempel. Mit Seilen sperren sie die Mitte vor dem Tempeleingang ab, den Weg, den die Sonnenstrahlen bis ins Heiligste nehmen werden. Zwischen 1964 und 1968 wurde der Tempel abgebaut und danach 65 Meter höher sowie 185 Meter weiter landeinwärts wiedererrichtet. Ohne diesen Umzug hätte ihn der aufgestaute Nassersee, der durch den Assuan-Staudamm entstand, überflutet.

Ob man Ramses heutzutage als einen Diktator bezeichnen würde? Der vierfache Ramses aus Stein scheint erhaben und gütig zu lächeln über diese Frage. "Wahrscheinlich", mischt sich eine Kalifornierin ein. "Schließlich dienten ihm die Leute wie Sklaven." Sicher ist, seine fünf Millionen Untertanen mussten hohe Steuern in Form von Weizen und Mais entrichten und während der Flut, wenn der Nil über die Ufer trat, für Ramses als Bauarbeiter schuften. Bis zu 20 Sommer dauerte die Vollendung von nur einem der 20 Tempel, für die Ramses als Bauherr verantwortlich zeichnet. Zehn weitere Tempel okkupierte er einfach, indem er deren Namenskartuschen gegen seine eigenen austauschen ließ - etwa wie ein widerrechtlicher Wechsel des Klingelschildchens an der Haustür. Besucht hat Ramses Abu Simbel nur zwei Mal.
Es geht gegen vier Uhr, die Tiefschlafphase scheint im Ramses-Lager eingekehrt zu sein. Es ist ruhig, obgleich inzwischen sicher schon um die 500 Leute vor dem Tempel warten. Auch Miyu ist an Takumis Schulter eingenickt. Die Kalifornierin ist noch wach, ein anderer ist ganz vertieft in einen Ägypten-Führer. Seine Handylampe beleuchtet ein Foto der Mumie des Pharaos, die unter Glas im Nationalmuseum von Kairo liegt. Er muss ein stattlicher Mann gewesen sein, sechs Fuß groß, also etwa 1,80 Meter, erhaben mit Hakennase und langer Kinnpartie. Er soll auch einen sehnigen Körper gehabt haben, mit schmalen, langen Zehen. "Der Tempel zeigt Ramses auf dem Weg von Mensch zu Gott", erklärt Mohammed El Bialy. "Draußen ist er in vierfacher Form noch Mensch, begleitet von seiner Familie zu seinen Füßen, im Heiligtum drinnen hat er sich dagegen schon in die Reihe der bedeutendsten Götter eingereiht, die man in der 19. Dynastie verehrte." Auch das Sonnenwunder sollte diese Vergöttlichung unterstreichen. Der Wissenschafter bezweifelt jedoch, dass die Sonnenwundertage einhergehen mit Geburts- und Krönungstag von Ramses II. El Bialy vermutet eher saisonale Gründe: Sommeranfang und Sommerende.

Plötzlich laute Headbanging-Beats, die Menschen schrecken auf. Welch ein Affront an diesem Ort! Es ist 5.20 Uhr, der Sonnenaufgang naht. Die werden doch nicht ...? Nein, um 5.45 Uhr geht der Musikwecker wieder aus. Es dämmert, und die Spannung steigt. Ein Dunstschleier verhindert die ersten direkten Sonnenstrahlen in den Tempelgang. Es dauert bis 5.56 Uhr: Dann dringen die Menschen in das Innere des Tempels. Doch mit der Anmut ist es vorbei: "Yalla! Yalla!", rufen die Polizisten und schieben die Leute wie eine Viehherde ins Tempelinnere. "Weiter! Weiter!" So viele wie möglich sollen das Sonnenwunder erleben können. Wer stehen bleibt, wird weitergeschubst. Anhalten gibt's nicht. "Yalla! Yalla!" Der Weg ist genau vorgegeben. Bis man vor den vier Göttern steht: Ptah im Dunklen, die anderen drei angestrahlt vom rötlich-gelben, morgendlichen Sonnenlicht. "Yalla! Yalla!" Weiter, weiter ... In gebückter Haltung, damit kein Schatten auf die Figuren fällt. Das Sonnenwunder-Glück besteht nur aus ein paar Sekunden ... und verliert mit dem Geschiebe doch einiges an Würde. Faszinierend bleibt es trotzdem. Und fröhlich wird es auch noch: durch das Sonnenfest, draußen auf dem Vorplatz. Die Derwisch-Tänzer drehen sich minutenlang, posieren mit Touristen für Fotos. Es ist ein lockeres, ein fröhliches Fest, das ganz der Sonne gewidmet ist. Auch Miyu und Takumi posieren, und der Tempeltürsteher Awad Hassan, einer von elf Tempelwächtern, die sich im 24-Stunden-Schichtdienst abwechseln, zeigt seinen überdimensionalen Schlüssel. Es ist sein elftes Sonnenwunder. Nur zwei Mal, so Awad, habe es nichts zu sehen gegeben. "Weil zu dichte Wolken da waren …"

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