Zusammengekauert liegt die kleine Sophia auf der Liege eines Spitals in der Näher von Tiverton, Südengland. Ein blaues Tuch wärmt sie, die Augen hat sie geschlossen. Vor ihr stehen Schalen, in die sich das Mädchen, das an einem medizinischen Gerät hängt, übergeben kann. Das Kind hat keinen Unfall erlitten, sie ist auch nicht erkrankt. Sie ist Opfer geworden. Und zwar von Mobbing in ihrer Schule.
"Das ist mein Kind, das aufgehört hat zu essen, das sich selbst in den Schlaf geweint hat, das so starke Angst hat, dass sie sich mehr als 20 Mal in einer Stunde in der Nacht übergeben hat. Das ist mein Kind, dessen ,beste Freundin' sie so lange emotional missbraucht hat, dass es dachte, das sei normal", klagt Sophias Mutter Carrie Golledge in ihrem Facebook-Posting. Mehr als 260.000 Menschen haben auf diesen Beitrag über das vor Angst krank gewordene Kind reagiert, ihn geteilt, kommentiert.
Golledge klagt, dass niemand in der Lage war, ihr Kind vor den Angriffen des anderen Mädchens zu schützen. "Das sind Sechsjährige, die sich wie Sechsjährige verhalten", bekam die Britin lapidar zu von den Verantwortlichen zu hören. Schließlich habe sie ihre Tochter aus der Schule genommen. Warum sie das Foto ihres Kindes ins Internet gestellt hat? Golledge will darauf aufmerksam machen, dass Mobbing Gewalt ist und Leid verursacht, verletzt, krank macht. "Helft uns, das zu verbreiten. Lasst uns Sophia die Unterstützung zeigen, die ihre Schule nicht leisten konnte", ruft sie auf.
Wie Eltern erkennen, dass Kinder unter Mobbing leiden
"Sozialer Rückzug, Bauchweh vor dem Schule-Gehen, schlechtere Noten und Einschlafstörungen sind Warnsignale für Eltern", erklärt die Welser Psychologin Marion Humer im SN-Gespräch. Immer wieder hat sie Kinder und Jugendliche in ihrer Praxis, die Opfer von psychischer Gewalt in der Schule werden.
Angesprochen auf den aktuellen Fall in England meint die Oberösterreicherin, dass eineinhalb Jahre für ein so junges Opfer wie die sechsjährige Sophia ein enorm langer Zeitraum sei. "Wenn die Psyche schreit und der Körper schon reagiert, ist es für Mama und Papa höchste Zeit, zu reagieren", sagt sie.
Was Eltern tun können, wenn ihre Kinder gemobbt werden
Eine klare Strategie, um das Problem zu lösen, empfiehlt Humer. Dazu sei viel Kommunikation notwendig. Einerseits zwischen Eltern und Kind, andererseits zwischen den Erziehungsberechtigten und der Schule. "Mobbing ist immer ein Führungsthema und kommt dann vor, wenn es keine Philosophie der Wertschätzung und des guten Umgangs miteinander gibt", so die Psychologin.
Das betroffene Kind als Konsequenz aus der Schule zu nehmen, sieht sie allerdings nicht als den besten Weg. "Ein gemobbtes Kind trägt die Aura als Opfer meistens mit sich mit. Andere Kinder merken das. Wichtiger wäre es, das Thema am Ort des Geschehens anzugehen, das Selbstvertrauen des Kindes auf- und auszubauen sowie es zu lehren, wie es anderen Kindern Grenzen setzen kann." Mädchen und Buben müssten lernen, sich selbst zur Wehr zu setzen. Eltern, die stets um ihren Nachwuchs herumschwirren und die Angelegenheiten ihrer Kinder vorschnell regeln, sieht Humer als problematisch. Kinder sollten vielmehr eigene Strategien entwickeln, um Streit zu schlichten.
"Eltern müssen die Handys ihrer Kinder kontrollieren"
Ganz klar ist für Humer, dass Eltern stets wissen müssen, was ihre Kinder am Handy und im Internet machen. "Bei Jüngeren schauen Eltern selbstverständlich regelmäßig, in welchen Netzwerken sie sich bewegen, was sie mit wem schreiben, welche Bilder sie teilen." Stichwort Sexting: Immer wieder käme es vor, dass (meist) Mädchen Nacktfotos von sich machen und an ihren Schwarm schicken, der sie dann in der Schule herumzeigt.
Nur durch offene Gespräche und Kontrollen können Kinder vor Angriffen geschützt werden, sagt Humer. "Wer seinen 14- oder 15-Jährigen vertraut und sie fit gemacht hat im Umgang mit Social Media, kann vom täglichen Überprüfen auf Stichprobenkontrollen umsteigen." Jedenfalls sei es für Väter und Mütter unerlässlich, dass sie die digitale Welt ihrer Sprösslinge gut kennen.
Unklar, wie viele Menschen gemobbt werden
Aktuelle Zahlen, wie viele Kinder - oder auch Erwachsene - in Österreich gemobbt werden, sind schwer auszumachen. "Für Österreich gibt es keine Studien derzeit, das Land ist dazu wohl zu klein", sagt Marion Humer.
2015 etwa wurde durch eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bekannt, dass Österreich die höchste Mobbing-Rate in Schulen hat. Derzufolge berichtete hierzulande einer von fünf Buben im Alter von elf bis 15 Jahren von zumindest zwei Mobbing-Erfahrungen in der Schule. Mit 21,3 Prozent wies Österreich damit einen fast doppelt so hohen Anteil an Mobbingopfern im Schulumfeld aus als der OECD-Schnitt der 27 untersuchten Länder mit elf Prozent.
In Österreich waren nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF im Jahr 2014 insgesamt 35 Prozent der Schüler von Mobbing betroffen.
Einen nicht unwesentlichen Anteil an Mobbing-Vorfällen dürften gerade bei Kindern und Jugendlichen Soziale Netzwerke haben. Immer wieder werden sie im Internet bloßgestellt, ausgegrenzt, beschimpft oder bedroht.