Im Zuge der Naturkatastrophe von Blatten am 28. Mai stürzten 9,3 Mio. Kubikmeter Material - etwa 3 Mio. Kubikmeter Eis und 6 Mio. Kubikmeter Geröll - ins Tal - "das entspricht in Summe der Füllung von rund 3.700 olympischen 50-Meter-Schwimmbecken", so die Forscherin von der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Sion (Sitten). Doch dem Gletscherabbruch waren schon seit dem 14. Mai immer wieder substanzielle Felsstürze vorgelagert. Dabei fielen Geröllmassen vom Kleinen Nesthorn auf den Birchgletscher, in Summe drei Millionen Kubikmeter. Und dann folgte der Abbruch des Gletschers, vor den Augen der lokalen, bereits evakuierten Bevölkerung des Bergdorfes sowie der Weltöffentlichkeit. Das Dorf wurde großteils verschüttet.
Die Besonderheit von Blatten: Durch die zuvor bereits wahrgenommenen Materialbewegungen stehen Beobachtungsdaten von vor, während und nach dem Ereignis zur Verfügung - quasi einzigartig für die Forschung, wie Jacquemart unterstreicht.
Verschiedene Forschungsdisziplinen gefordert
Drei Monate nach dem Ereignis seien aber der Forschung - den Teams aus der Schweiz wie dem Ausland - noch nicht alle Daten zugänglich. Die für die Wissenschafter besonders interessanten, im Eigentum der Gemeinde befindlichen Aufzeichnungen des Großereignisses, erhoben mit Zeitraffer-Kameras und Radargeräten, würden derzeit nochmals besser aufbereitet und dann bereitgestellt. "Es wird noch eine Weile dauern, bis wir wirklich sagen können, dass wir die ganze Prozesskette so gut wie möglich verstanden haben", so die Glaziologin, die bei der Konferenz am Donnerstag eine Session zum wissenschaftlichen Austausch abhalten wird.
Was waren die Kräfte und die Prozesse, die dazu geführt haben, dass sich der Gletscher und das aufliegende Gestein so stark beschleunigen konnten? Wäre es schneller zum Abbruch gekommen, wenn der Gletscher noch mehr Masse gehabt hätte oder nicht? War der Abbruch schon nicht mehr aufhaltbar, als bereits eine Million Kubikmeter Material auf dem Gletscher lag - oder erst, als es die drei Millionen waren? Diese Fragen interessieren die Forschung. Es geht dabei nicht nur um die Glaziologie, sondern auch um die Auswertung der geologischen, seismischen und klimatischen Daten. Letztlich wolle man wissen: "Was können wir für eine ähnliche Situation in der Zukunft lernen?", so die Wissenschafterin.
Weniger Frage der Instabilität
"Die meisten Gletscher werden durch den Klimawandel nicht instabil. Sie werden einfach kleiner", den Schmelzgrad durch die Klimaerwärmung könne man auch gut messen. Instabile Gletscher kämen nur unter sehr speziellen Rahmenbedingungen vor: "Das passiert hauptsächlich in ganz hohen Lagen, bei eher steilen Gletschern, wo das Gletschereis eigentlich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten am Felsen angefroren ist. Wenn sich solche Gletscher stark aufwärmen und vor allem auch Wasser eindringt, das bis unter den Gletscher vorstoßen kann, dann können diese Gletscher destabilisiert werden."
Der Birchgletscher sei laut aktuellem Wissensstand nicht festgefroren gewesen. Aber es gehe schon auch darum zu verstehen, wie sich die Veränderungen im Hochgebirge - mit Alpengipfeln, die noch vor 40 Jahren den ganzen Sommer schneebedeckt waren und heute blank sind - per se auswirken. Zugleich spielen die lokalen geologischen Gegebenheiten eine große Rolle. Man müsse noch untersuchen, wie die Geologie und der Permafrost im Falle des Kleinen Nesthorns zusammengespielt haben.
Nicht einfach transferierbar
Von dem Verständnis des Einzelfalles sind Einblicke für andere Regionen ableitbar. Doch lokale Gegebenheiten lassen sich nicht einfach transferieren. Und rein auf die Erderwärmung zu verweisen, ist auch ungenügend: "Wir können nicht einfach sagen: Es ist an der Oberfläche von diesem Berg zwei Grad wärmer geworden und darum muss etwas herunterfallen. Bei 10.000 anderen Bergen ist es auch so und die fallen auch nicht einfach ins Tal."
Klar ist: Auch das beste Messnetz für Permafrost und Massenbewegungen, wie es der Schweiz oft attestiert wird, "verhindert nicht diese Ereignisse bzw. lässt uns diese nicht unbedingt vorhersehen". Ein so kleinmaschiges Netz könne es nicht geben. Auch in Blatten war es vor allem die lokale Bevölkerung, die die ersten Bewegungen wahrnahm, und daraufhin reagierten die lokalen Behörden mit dem Aufbau eines Monitoringsystems. "Und wir haben viel Geld und sind privilegiert: Wenn etwas geschieht, werden auch die besten, modernsten Geräte mobilisiert", ergänzt Jacquemart.
"Herantasten an Vorhersagen"
Mehr Wissen hilft schon für "ein Herantasten an Vorhersagen". Die ganze Sache erschwere zwar, dass die Prozesse heute durch den Klimawandel sehr schnell vonstattengehen. Nicht realistisch sei aber, künftig Prognosen zu tätigen, "dass in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich dieser eine Gletscher unter diesem bestimmten Berg der gefährdetste Gletscher der Schweiz ist".
Als Glaziologin zu arbeiten, sei emotional bisweilen sehr belastend. "Man sieht einfach, wie krass tatsächlich die Veränderungen sind." Zudem gebe es traurigerweise eine gewisse Trägheit des politischen Systems, etwas zu ändern. Gleichzeitig empfinde die eigene Forscherinnenseele die Arbeit als "wahnsinnig spannend", nämlich die Herausforderung anzunehmen, den Wandel zu verstehen und "in etwas umzumünzen, was meines Dafürhaltens gesellschaftlich relevant ist".
(S E R V I C E - https://imc2025.info/)