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Aufgehender Permafrost löste Felssturz in Tirol aus, Alarmsignal für Kraftwerksprojekt Kaunertal

In der Silvrettagruppe im Gemeindegebiet von Galtür (Bezirk Landeck) ist es am Sonntag zu einem massiven Felssturz gekommen. Im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns donnerten mehr als 100.000 Kubikmeter Material über das breite Wasser in Richtung Jamtalhütte. Laut Landesgeologie dürften die Ursachen im aufgehenden Permafrost liegen, weitere Felsabbrüche in dem hochalpinen Bereich können zudem nicht ausgeschlossen werden. Es wurde niemand verletzt.

Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.
Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.
Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.
Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.
Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.
Massiver Felssturz im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns.

Das Fluchthorn in der östlichen Silvretta war 3399 Meter hoch. Seit Sonntag dürften es rund 100 Meter weniger sein, nachdem Gesteinsmassen den Fluchthornferner auf einer Länge von etwa zwei Kilometern hinab gedonnert waren. Offenbar wurde der halbe Gipfel durch den Abbruch weggerissen, auch das Gipfelkreuz fehlte.

"Es ist niemand betroffen, es gibt keine Verletzten", sagte Maximilian Riml von der Bergrettung Tirol am Montag im Gespräch mit den SN. Es handle sich um kein klassisches Wandergebiet. "Es wird dort eigentlich nur geklettert." In der Nähe der Abbruchstelle befinden sich die derzeit geschlossene Jamtalhütte sowie ein Ausbildungszentrum der Bergrettung. Dort wird gerade ein Kurs abgehalten. "Beide Gebäude wurden aber nicht beschädigt, sie liegen deutlich entfernt vom Geröll", erklärte Riml. In Galtür herrsche "ganz entspannte" Stimmung, berichtet Bürgermeister Hermann Huber am Montagvormittag. "Das war weit hinten, sicher acht Kilometer von uns entfernt." Auch er betont, es sei "alles glimpflich abgelaufen".

Erkundungsflug wurde am Montag in der Früh gemacht

Nach einem Erkundungsflug am Montag früh sagte der Tiroler Landesgeologe Thomas Figl: "Es hat sich gezeigt, dass es sich doch um ein relativ großer Ereignis handelt, es sind zumindest 100.000 Kubikmeter Fels abgestürzt - wahrscheinlich mehr." Das sei eine erste grobe Schätzung aus der Luft, sagte Figl. Weitere Messungen sollen im Lauf der nächsten Tage detailliert Angaben bringen.

Die Ursache für den Felssturz sei "relativ klar im aufgehenden Permafrost" festzumachen. Das Eis schmelze im Zug der Klimaerwärmung, was dazu führe, dass "die Berge bröckeln, mit vereinfachten Worten", erklärte Figl. "Das Eis ist der Klebstoff der Berge, aber dieser Klebstoff geht langsam verloren. Dadurch kommt es immer wieder zu solchen Ereignissen." In den nächsten Tagen müsse mit weiteren kleineren Block- und Felsstürzen gerechnet werden. Infrastruktur sei nicht gefährdet, betonte der Landesgeologe weiter. Sehr wohl aber seien die Wanderwege bis auf weiteres gesperrt. Im Laufe der nächsten Zeit müsse man überlegen, welche Wege dauerhaft gesperrt oder eventuell verlegt werden müssten und welche wieder freigegeben werden könnten. Siedlungsgebiet sei definitiv nicht gefährdet. Auch der Öffnung der Jamtalhütte am nächsten Wochenende stehe nichts im Wege, hieß es.

Nicht immer ist aufgehender Permafrost die Ursache

Ereignisse "dieser Dimension kommen nur selten vor, ein paar Mal vielleicht in einem Jahrhundert", erklärt Geologe Michael Lotter von Geosphere Austria. Ab einer Abbruchmenge von einer Million Kubikmetern spreche man von einem Bergsturz. Alles darunter firmiere unter Felssturz. Allerdings müsse dafür nicht immer der Schwund des Permafrostbodens eine Rolle spielen. "Grundsätzlich kann so ein Bergsturz ein natürlicher Hangausgleichsprozess sein", sagt Lotter. Er verweist auf den 2592 Meter hohen Hochvogel an der Grenze von Tirol zu Deutschland. Dieser stehe schon eine ganze Weile unter Beobachtung, weil man von "größeren Felsstürzen" ausgehe. Der größte Bergsturz der vergangenen Jahrzehnte in den Alpen ereignete sich am 23. August 2017 an der Nordflanke des 3369 Meter hohen Piz Cengalo im Schweizer Kanton Graubünden. Acht Menschen starben. Die Ortschaft Bondo wurde vollständig evakuiert. Etwa drei Millionen Kubikmeter Gestein rasten zu Tal. Bereits 2011 waren bis zu zwei Millionen Kubikmeter Gestein vom Piz Cengalo abgebrochen, was jedoch ohne Folgen blieb.

Der größte Bergsturz Österreichs wurde am 25. Jänner 1348 durch ein Erdbeben in Friaul ausgelöst. Damals brachen vom Dobratsch in Kärnten rund 150 Millionen Kubikmeter Gestein ab. Historischen Quellen zufolge sollen 17 Dörfer verschüttet worden sein.

Bergretter wurde zum Augenzeugen des Felssturzes

Der Galtürer Bergretter Patrick Schöpf nahm von dem Ereignis Sonntagnachmittag ein Video auf, denn er war mit seiner Frau gerade nahe der dortigen Bergrettungskapelle unterwegs. Als das Geröll zu Tal donnerte, habe seine Frau zunächst gedacht, dass es sich um eine "Lawine" handle. Der erfahrene Bergretter schätzte, dass der Gipfel des 3.398 Meter hohen Fluchthorns um 50 bis 100 Meter weggerissen wurde, wie er gegenüber der APA erklärte. Es handle sich jedenfalls um einen "richtigen Bergsturz", den er in dieser Dimension dort bis dato dort noch nicht erlebt habe.

In dem betroffenen Gebiet gibt es übrigens ein Ausbildungszentrum für Bergretter. Zum Zeitpunkt des Bergsturzes wurde gerade ein Kurs im Freien angehalten, wie Schöpf gegenüber dem ORF Tirol berichtete. Er habe seine Frau angewiesen, zu den Bergrettern zu laufen, um sie vor der Gefahr zu warnen. Angst habe er aber keine gehabt, er habe gewusst, dass es Flächen gibt, die das Gestein verlangsamen würden. Die Jamtalhütte sei zudem nicht in Gefahr gewesen. Auf das Fluchthorn würden laut dem Bergretter übrigens großteils nur geführte Touren durchgeführt.

Der Felssturz führte indes zu weitgehenden Beeinträchtigungen der Wanderwege in dem Gebiet. Wie die Jamtalhütte auf ihrer Homepage informierte, sind die Wege zum westlichen Gamshorn, zur Schnapfenspitze, zum Finanzerstein, Zahnjoch, Kronenjoch und Futschölpass gesperrt.

Grünen sind in Sorge wegen Kraftwerksprojekt

Die Tiroler Grünen sorgten sich unterdessen aufgrund des "abtauenden Permafrosts". "Der Bergsturz am Fluchthorn muss ein Alarmsignal auch über das Paznaun hinaus sein", warnte Klubobmann Gebi Mair in einer Aussendung. Angesichts der "aktuellen Entwicklungen" müssten "großtechnische Projekte im Hochgebirge" überprüft werden, forderte er. "Das gilt insbesondere für das Kraftwerksprojekt Kaunertal. Auch wenn die Bewegungen am Gepatschspeicher derzeit schon beobachtet werden, sind die Prüfparameter neu zu justieren", sagte Mair.

Auch die Naturschutzorganisation WWF sah ähnliche Gefahren im Kaunertal herannahen. "Der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal würde die Instabilität um den Gepatschspeicher weiter erhöhen. Vor dem Hintergrund des aktuellen, massiven Bergsturzes muss Landeshauptmann Anton Mattle (ÖVP, Anm.) sich endlich mit den akuten Sicherheitsbedenken beschäftigen, anstatt den von der Tiwag gewünschten Ausbau des Kraftwerks stur durchzuboxen", forderte Gewässerschutzexpertin Bettina Urbanek. Diese Frage dürfe nicht im UVP-Verfahren behandelt werden, sondern benötige eine Überprüfung durch eine unabhängige Fach-Kommission. Der WWF verwies zudem darauf, dass die Alpen von der Klimakrise besonders stark betroffen seien.

Privates Video vom Felssturz

Der Tiroler Landesgeologe Thomas Figl im Interview