Die Schülerinnen und Schüler der Vienna Business School in Floridsdorf mussten sich am Donnerstag sprachlich von ihrer flexiblen Seite zeigen. Denn zur angekündigten Podiumsdiskussion anlässlich des 100-jährigen Bestehens von Interpol kam nicht der kurzfristig erkrankte Generalsekretär Jürgen Stock, ein Deutscher, sondern quasi seine Nummer zwei, Stephen Kavanagh, Executive Director for Police Services und waschechter Brite mit 26-jähriger Erfahrung bei Scotland Yard. Der 57-Jährige stand auch den SN Rede und Antwort.
Angesprochen auf den Umstand, dass zwar nahezu jeder den Begriff Interpol kenne, aber niemand recht wisse, was die geheimnisumwitterte Organisation eigentlich tue, musste Kavanagh kurz schmunzeln. Irgendwie dürfte es ihn schon ein wenig stören, dass man Interpol gern jene Attribute zuordnet, wie es auch die Filmindustrie immer getan hat: eine Prise Mystik, eine Messerspitze Spionage, verdeckte Operationen, im Hintergrund ausgeheckte Generalpläne für die ganze Welt.
"Wir nehmen niemanden fest, wir sind auch nicht bewaffnet", stellte Kavanagh klar. Rund 1100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien in 195 Ländern tätig, in denen Interpol Büros hat. Und das als Bindeglieder zwischen den Ländern. "Wir vernetzen und verbinden, wir sind aber nicht Big Brother. Denn wir sind schon immer der Ansicht gewesen, dass es wichtig ist, die Privatsphäre der Menschen so weit wie möglich zu schützen. Und wir versuchen, die Komplexität weltweiter Kriminalität zu erfassen."
Die Rolle von Interpol sei es, neutral zu bleiben, sich nicht einzumischen in Politik und Religion. "Das ist unsere Stärke. Wären wir all das nicht, würden wir beginnen zu urteilen und zu unterscheiden. Mit dem Effekt, dass am Ende nur die Kriminellen davon profitieren." Deshalb müsse ein Mitglied von Interpol zur einen Hälfte Polizist und zur anderen Diplomat sein.
Doch so ganz kann man Filmhelden wie Ethan Hunt oder James Bond nicht ausblenden, wenn es um die in Farbe gehaltenen Botschaften an entweder alle oder nur ausgewählte Länderbüros geht. Die berühmte Red Notice etwa, die die weltweite Suche nach hochgefährlichen Kriminellen einleitet. "Es ist ein Ersuchen, eine Aufforderung. Aber es ist kein Haftbefehl", stellt Stephen Kavanagh klar. Oder die Black Notice - wenn eine Leiche gefunden wurde, deren Identität unbekannt ist. Oder die Yellow Notice, die bei der Suche nach Vermissten zum Einsatz kommt. Filme und Romane trügen sie nicht als Titel, übten sie nicht diesen Reiz aus, der sich einstellt, wenn man sich jemanden vorstellt, der im Hintergrund die Fäden zieht. Noch dazu weltweit.
Für solcherart Fantastereien hat Kavanagh, der als Nachfolger von Generalsekretär Stock gehandelt wird, keine Zeit. Er redet viel lieber über die Bekämpfung globaler Kriminalität, die Menschenhandel, Finanzbetrug, Drogen, Waffen und Terrorismus umfasst. "So wie sich die Täter immer wieder anpassen, müssen auch wir uns anpassen. Wir müssen so agil wie möglich bleiben." Dabei dürfen die am 7. September 1923 beim Gründungsakt in Wien festgeschriebenen Grundwerte von Interpol weder umgangen noch verraten werden.
Die Generalversammlung zum 100-Jahr-Jubiläum findet im November 2023 in Wien statt.