"Das vorherrschende System von Gewalt, Angst und Vertuschung im Kinderdorf Imst und die damit einhergehenden Kindeswohlgefährdungen waren für die KiJA und deren externen Vertrauenspersonen nicht ersichtlich", sagte Kinder- und Jugendanwalt Lukas Trentini. Das "gewaltvolle Verhalten" stehe jedenfalls "im Widerspruch zum Gewaltverbot und unseren Grundrechten und ist kategorisch abzulehnen". Diese neu zutage gebrachten Vorfälle aus der nahen Vergangenheit würden wiederholt "deutlich machen, dass konsequenter und professioneller Kinderschutz unumgänglich ist".
Das SOS-Kinderdorf müsse die Vorfälle gründlich aufarbeiten und die eigenen Strukturen radikal hinterfragen und weiterentwickeln, hieß es seitens der Stelle. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft werde ebenso im Zuge der Überarbeitung ihres Kinderschutzkonzepts "reflektieren, wie es gelingen kann, das Vertrauensverhältnis der externen Vertrauenspersonen hin zu den Bewohnerinnen und Bewohnern noch mehr zu stärken", sagte Trentini zu. Ebenso müssten jedoch das Land Tirol und der Staat Österreich "prüfen, welche Strukturen derartiges Fehlverhalten begünstigen bzw. ermöglichen."
Ehemaliger Heimleiter will sich an Griss wenden
Der ehemalige Leiter des SOS-Kinderdorf Imst sagte indes der "Tiroler Tageszeitung" (Dienstag-Ausgabe), dass er sich "aktiv an Irmgard Griss wenden" und ihr gegenüber seine "Sicht der Dinge darstellen" werde. Inhaltlich äußerte sich der ehemalige Heimleiter zu den Vorwürfen nicht, betonte jedoch, in seinen zehn Jahren in der Einrichtung stets das Wohl der Kinder im Auge gehabt zu haben. Den Vorwurf der "schwarzen Pädagogik" wies er entschieden zurück.
Das SOS-Kinderdorf hatte bereits vor Jahren die Führung in Imst ausgetauscht, die Vorfälle an sich waren der Öffentlichkeit gegenüber jedoch unbekannt geblieben. Nach dem Aufkommen der Vorwürfe bezüglich mehrere SOS-Kinderdorf-Standorte gab der Aufsichtsrat der Organisation in der Vorwoche die Einsetzung einer Untersuchungskommission bekannt. Diese soll von Ex-OGH-Präsidentin Griss geleitet werden und erstmals am 8. Oktober vollständig zusammentreten.
Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen ein
Nach dem Aufkommen der Gewaltverdachtsfälle am SOS-Kinderdorf-Standort in Imst hatte die Innsbrucker Staatsanwaltschaft zuletzt offiziell ein Ermittlungsverfahren gegen vorerst unbekannte mögliche Täter eingeleitet. Konkret prüfe man acht beschriebene Vorfälle auf ihre strafrechtliche Relevanz, hieß es seitens der Staatsanwaltschaft. Es gehe um die Tatbestände der Freiheitsentziehung, Körperverletzung, Nötigung sowie Kindesmisshandlung. Die Verdachtsfälle hätten sich aus einer vorliegenden, internen Studie des Instituts für Männer- und Geschlechterforschung ergeben.
Bereits Mitte September hatte es seitens SOS-Kinderdorf geheißen, dass im Falle von Imst fünf Fälle von Verdacht auf Kindeswohlgefährdung an die Kinder- und Jugendhilfe gemeldet worden seien. Die Vorfälle betreffen demnach den Zeitraum 2017 bis 2020 und würden sich auf das Fehlverhalten zweier Führungskräfte beziehen. Damals sei es zu "Fällen von physischer und psychischer Gewalt und Fehlern in der Leitung" gekommen, räumte die Organisation ein. Details dazu könne man aus Gründen des Opferschutzes sowie Datenschutzes nicht nennen. Vier der Fälle seien bereits Ende November 2021 an die Kinder- und Jugendhilfe gemeldet worden, der fünfte Fall im August 2022. Laut Innsbrucker Staatsanwaltschaft war in der Vergangenheit in der Causa nichts anhängig gewesen.
Grüne: Strafrechtlich relevantes bewusst zurückgehalten
Offenbar sei "strafrechtlich relevantes Material bewusst zurückgehalten worden", kritisierten indes die Tiroler Grünen angesichts der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft am Dienstag in einer Aussendung. Es habe sich offenbar nicht um Einzelfälle gehandelt, notwendige Konsequenzen seien nicht gezogen worden. Nun brauche es dringend eine "Systemanalyse", forderte Familiensprecherin Zeliha Arslan. Es gehe "nicht um bloße Verdachtsmomente, sondern um schwerste Vorwürfe - mitten in Tirol, in einer Einrichtung, die eigentlich ein sicherer Ort für Kinder sein sollte", betonte die Landtagsabgeordnete. Die Grünen kündigten an, in der Causa sowohl bezüglich Aufarbeitung als auch konkreten Handlungsmaßnahmen im Oktober-Landtag "Initiativen" einbringen zu wollen.
Causa kam nach Berichten über Kärntner Standort ins Rollen
Ausgelöst hatte die Causa Mitte September ein Bericht des "Falter". Demnach sollen Kinder und Jugendliche am Kärntner Standort in Moosburg im Zeitraum von 2008 bis 2020 misshandelt, eingesperrt und nackt fotografiert worden sein. Die Informationen der Wochenzeitung stammen aus einer Studie, die SOS-Kinderdorf selbst in Auftrag gegeben, aber nie öffentlich gemacht hatte. Daraufhin wurden weitere Verdachtsfälle auch am Tiroler Standort Imst bekannt, die offenbar ebenso in besagter weiteren internen Studie aufgearbeitet worden waren.