Die Angst ist in der Stimme und den Augen von Opfern noch Monate nach dem Horrortrip zu erkennen. "Es hat sehr lange gedauert. Vielleicht eine halbe Stunde. Uns kam es aber wie eine Ewigkeit vor", erzählte Andrea Fantini . Sechs oder sieben Orcas, auch Schwert- oder Killerwale genannt, hätten in der Straße von Gibraltar seine Rennjacht attackiert und dabei unter anderem das Ruderblatt "aufgefressen", berichtete der Bootskapitän noch sichtlich beeindruckt. Zwar greifen Orcas auch andere Meeresgiganten an: Neben Thunfischen, Heringen, Pinguinen, Robben und Seevögeln verspeisen sie auch Delfine, andere Wale und Haie. Auf Boote hatten sie es aber bisher nicht abgesehen.
Erste Zwischenfälle meldeten Schiffsbesatzungen im Frühjahr 2020. Die Begegnungen wurden von Crews oft auf Video festgehalten. Man hört dann Schreie der überraschten Seeleute: "Boah, was für ein Riesenvieh!", "Du Drecksack!" und "Er hat uns erwischt!". Fantinis Boot war im Juni 2022 dran.
Dieses Jahr häufen sich Medienberichte über Orca-Attacken. Seit Jänner habe man mindestens 53 registriert, sagt der Biologe Alfredo López von der Organisation "GT Atlantic Orca". Zwölf Boote seien so sehr beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten.
Immer wieder musste der Seenotdienst im April und im Mai betroffene Besatzungen an der Straße von Gibraltar bergen. Zwischenfälle gab es auch vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der spanischen Region Galicien. Anfang Mai ging vor Cádiz das Schweizer Boot "Champagne" nach einem Zwischenfall mit Orcas sogar unter.
Man müsse schnell eine Lösung finden, fordert derweil Fantini. Sonst könnten kleinere Schiffe das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik, zwischen Europa und Afrika wohl nicht mehr befahren.
Doch warum agieren viele Orcas plötzlich so? Forscher wissen es nicht. Sie rätseln und widersprechen sich zum Teil. López, ein weltweit angesehener Meeresbiologe, vertritt zwei Thesen. Die erste: Die Schwertwale aus der Familie der Delfine könnten vielleicht einfach "etwas Neues" erfunden haben. Sie seien hochintelligente, neugierige und sehr soziale Wesen, die von ihren Artgenossen lernten. Bereits früher habe man beobachtet, dass einzelne Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickelt hätten. "Aber es könnte sich auch um eine Antwort auf ein negatives Erlebnis handeln", meint López. "Das heißt, ein oder mehrere Tiere haben vielleicht eine schlechte Erfahrung gemacht und versuchen, die Boote zu stoppen, damit sich das nicht wiederholt." Der Experte hat eine Orca-Mama im Verdacht, die Attacken, die Biologen lieber "Interaktionen" nennen, initiiert zu haben. Die Wal-Dame hat auch einen Namen: Gladis Blanca, Weiße Gladis.
Sie oder eines ihrer Jungen könnten sich etwa in einem Fischnetz verfangen haben oder von einem Boot angefahren worden sein. Für eine Reaktion auf eine negative Erfahrung spreche unter anderem, dass Gladis Blanca 2021 sogar mit ihrer neugeborenen Tochter Boote angefallen habe. "Die Motivation, die sie zur Interaktion antreibt, ist offenbar größer als der mütterliche Schutzinstinkt", sagt López.
Im Gegensatz dazu glaubt Renaud de Stephanis, dass die Orcas nur Spaß haben wollen. "Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt", sagte der Präsident der Umweltschutzorganisation Circe zu RTVE. Jüngere Tiere hätten mit diesem Verhalten begonnen, und nun seien auch zwei Mütter aktiv, versichert er.
