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Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie

Keine Opale an der Côte d’Opale, kein Alabaster an der Côte d’Albâtre - ein Land der leeren Versprechungen? Nein, die französische Küste entlang des Ärmelkanals zeigt ihr wahres Gesicht nicht auf Anhieb. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der diskrete Charme der Normandie.

Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie
Eine Küste, die Kreide schluckt in der Normandie


Rechts, links. Links, rechts. Wonach mag der Mann mit dem Metalldetektor am Strand suchen? Strategisch grast er - sein technisches Gerät unermüdlich vor sich her schwingend - Quadratmeter um Quadratmeter ab. Opale? Immerhin trägt der Küstenabschnitt auf der französischen Seite des Ärmelkanals den Namen Côte d’Opale. Der Verfasser dieser Zeilen möchte allerdings abraten, hat er doch einst selbst viele Stunden an der polnischen Bernsteinküste verschwendet, ohne auch nur auf Spuren des fossilen Harzes zu stoßen. Dabei gibt es dort an den Ostseestränden Bernstein zuhauf, während hier an der Opalküste garantiert keine Opale vorkommen. Für die Namensgebung zeichnet lediglich die blau-grüne, dem Edelstein ähnliche Wasserfärbung verantwortlich. Diese und das magische Licht lockten schon früh Maler an die Küsten der Normandie.

Große Anziehungskraft übten auch die von der Erosion bizarr geformten Steilklippen aus Kreide beim ehemaligen Fischerdorf Étretat auf Künstler aus. Der Farbe der markanten Felsformationen verdankt dieser Küstenbereich wiederum seinen Namen Côte d’Albâtre (Alabasterküste). Hier fanden Delacroix, Courbet, Matisse, Monet und andere eine Vielzahl an Motiven vor. Gute Werbung für die Region. Im Sog der Maler strömte die mondäne Gesellschaft an die Küsten, die mit der Eisenbahn von Paris, Rouen und Le Havre aus relativ bequem zu erreichen waren. Die einfachen Siedlungen der Fischer verwandelten sich in Seebäder, deren morbider Charme auch heute noch reizvoll erscheint - besonders in der Vor- und Nachsaison.

Die pittoresken Klippen wie die siebzig Meter hohe Felsnadel Aiguille, die zu den meistfotografierten Motiven Frankreichs zählen, beflügelten schon seit jeher die Fantasie, was viele Legenden dokumentieren. Maurice Leblanc ließ hier in einer Höhle seine populäre Romanfigur Arsène Lupin den Schlüssel zum Schatz der Könige von Frankreich finden. Also doch ein guter Boden für Glücksritter? Der Mann mit dem Metalldetektor zieht jedenfalls weiterhin unbeirrbar seine Runden am Strand.

Die Wahrscheinlichkeit, dass er im Sand auf Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg stößt, ist größer als die Aussicht auf wertvolle Edelmetalle. An der Küste der Normandie wurde mit der Landung der Alliierten zur Befreiung Europas vom Naziwahnsinn Weltgeschichte geschrieben. An den D-Day, wie der 6. Juni 1944 bezeichnet wird, und die folgenden Kämpfe am Atlantikwall erinnern mehrere Museen. Eines von ihnen befindet sich am Cap Gris-Nez, wo ein deutsches Fort samt Geschützstellung besichtigt werden kann. Der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll war als Gefreiter der Wehrmacht unter anderem auch hier stationiert und gab in seinen "Briefen aus dem Krieg" Einblicke in den Soldatenalltag. Inzwischen dient die Landspitze, welche ein stattlicher Leuchtturm ziert, friedlichen Zwecken. Von hier aus wird der gesamte Schiffsverkehr auf dem Ärmelkanal überwacht.

An klaren Tagen lässt sich die 33 Kilometer entfernte Küste Großbritanniens sogar mit freiem Auge erkennen, was jedoch als kein gutes Zeichen gilt. Die Wetterregel der Einheimischen besagt nämlich: "Sieht man England, gibt es Regen." Nachsatz: "Sieht man England nicht, dann regnet es bereits."

Tatsächlich sind die weißen Felsen auf der anderen Seite des Kanals schemenhaft auszumachen. Sie bestehen aus derselben Kreide wie jene an Frankreichs Küste. Was geologisch zu dieser "Scheidung" führte, dafür hat die Wissenschaft bis heute keine plausible Erklärung. Irgendwann spaltete sich das Kreidemassiv und driftete auseinander. Zuerst grasten noch Mammuts auf den Wiesen des neu entstandenen Tals, dann füllte sich dieses mit Wasser. Und das ist gut so. Während nämlich drüben frittierte Mars-Riegel und Fastfood die Magennerven strapazieren, gilt die kulinarische Landschaft herüben als eine der besten der Welt. "Wahrzeichen" der normannischen Küche sind die drei berühmten C. Sie stehen für Cidre, Camembert und Calvados. Dazu gesellt sich eine breite Palette an variationsreich zubereiteten Meeresfrüchten.

Am Strand der Côte d’Opale sucht ein älteres Ehepaar nach Muscheln für das Abendessen. Keine hundert Meter davon entfernt greift der Mann mit dem Metalldetektor zu seinem Spaten und beginnt zu graben. Wenig später kniet er sich nieder, zieht einen Gegenstand aus dem Sand und reinigt das Ding mit den Händen. Im Gegenlicht lässt sich beim besten Willen nicht erkennen, worum es sich handelt, aber der Schatzsucher kommt näher. Zielstrebig steuert er die erstbeste Mülltonne an und entsorgt seinen Fund . . .

Anreise. Mit dem Wagen über München, Stuttgart, Karlsruhe, Reims und Le Havre nach Étretat (rund 1200 km, etwa elf Fahrstunden). Mit der Bahn über München, Mannheim, Paris und Rouen nach Le Havre (vier Mal umsteigen, zirka 13 Fahrstunden). Mit dem Flugzeug über Stuttgart oder Straßburg nach Le Havre Octeville (verschiedene Fluglinien).
Informationen. Reiseführer Normandie von Ralf Nestmeyer, erschienen im Michael Müller Verlag (2. Auflage 2013, 456 Seiten, herausnehmbare Landkarte, 21,90 Euro).