Der Religionswissenschafter Michael Blume meint im SN-Gespräch, der Islam sei zwischen Tradition und Moderne zerrissen.
Im Jahr 1485 wurde im Osmanischen Reich der Buchdruck verboten. Warum wirkt sich das bis heute negativ im Islam aus? Blume: Im Gegensatz zu heute war der Islam über Jahrhunderte eine auch wissenschaftlich führende Zivilisation. Noch 1453 haben die Osmanen Konstantinopel erobert. Sie waren Europa zivilisatorisch und wissenschaftlich weit überlegen.
Dann kam 1485 das Verbot des Buchdrucks, der zwei Effekte gehabt hat. Der eine war, dass er das Osmanische Reich zunächst stabilisiert hat. Es gab dort keine Reformation, keine Konfessionskriege, keine Hexenverfolgung. Das Osmanische Reich expandierte weiter über den Balkan bis nach Wien. Daraus ist in Europa das Bild vom ewigen Muslim entstanden, der sich nicht ändert und der Zeit enthoben ist.
Aber gleichzeitig entwickelte sich Europa und stürmte davon. Um 1800 können bereits die Hälfte der Deutschsprachigen und 20 Prozent der Portugiesen lesen und schreiben. Im Osmanischen Reich sind es nicht einmal fünf Prozent. Das Osmanische Reich verliert eine Schlacht nach der anderen.
Zur Erklärung greifen viele islamische Gelehrte zu Verschwörungsmythen: Nicht wir haben etwas falsch gemacht, sondern ausländische Verschwörer - die Illuminaten, die Freimaurer, die Weisen von Zion - untergraben den Islam. Viele Muslime feiern die eigenen, früheren Eroberungen und beklagen gleichzeitig die Siege des Westens. In dieser Bildungskrise steckt die islamische Welt bis heute und kann nicht verstehen, warum das kleine Israel mit 8,5 Millionen Einwohnern zweieinhalb Mal so viele Patente hervorbringt wie die gesamte arabische Welt.
Ist nicht mittlerweile die Bildung der jungen Menschen auch in der arabischen Welt wesentlich vorangekommen? Ja, aber genau das führt auch zu den enormen Spannungen. Wir haben auf der einen Seite junge Leute, die die Welt kennen, die lesen und schreiben können, und auf der anderen Seite eine islamische Theologie, die sich an der Vergangenheit orientiert. Der junge Bildungsaufsteiger in der muslimischen Welt - ob in einem arabischen Emirat oder in Wien - muss sich plötzlich entscheiden: Glaube ich dem Imam, der mir von der Weltverschwörung gegen die Muslime erzählt, oder glaube ich Charles Darwin, der von der Evolutionstheorie erzählt. Es ist unglaublich schwierig, beides unter einen Hut zu bringen.
Das Ergebnis ist auf der einen Seite die Radikalisierung einer Kleingruppe, die immer aggressiver gegen die behauptete Verschwörung auftritt, zugleich aber selbst das Internet und alle neuen, bisher verbotenen Techniken nutzt. Auf der anderen Seite ziehen sich diejenigen leise aus den Moscheen zurück, die glauben, dass die Wissenschaften recht haben und eine freie Gesellschaft eine gute Sache ist.
Es ist heute sogar in Saudi-Arabien und im Iran ein großes Thema, dass es unter Muslimen eine massenhafte verborgene Säkularisierung gibt. Die Zahl derer, die weniger beten oder sich sogar als Atheisten bezeichnen, wächst stark, obwohl das in vielen islamischen Ländern noch bei Gewaltandrohung verboten ist.
Sie schreiben, der Islam könnte eine digitale Reformation erleben. Ginge diese schneller vor sich als die Jahrhunderte, die das Christentum bis zur Aufklärung gebraucht hat? Die Reformation geschieht im Islam jetzt tatsächlich im Schnelldurchlauf. Ein Beispiel sind meine Schwiegereltern. Sie stammen aus einem türkischen Dorf, in dem sie die ersten Kinder waren, die überhaupt eine Schule besuchen durften. Jetzt leben sie in einer süddeutschen Metropolregion als Teil einer interreligiösen Familie. Das ist ein Schock.
Ein größerer Teil der Menschen schafft das, aber ein kleiner Teil schafft es nicht. Dazu gehören die Salafisten, die sich auf der einen Seite auf den Ur-Islam berufen und auf der anderen Seite gar nicht genug bekommen können von Selfies und YouTube-Videos, in denen sie sich selbst inszenieren. Ein Salafist um 1900 wäre in Ohnmacht gefallen, wenn man ihm vorgeschlagen hätte, ihn zu fotografieren. Das galt damals als modernes Teufelswerk.
Die heutigen Salafisten behaupten, sie würden einen authentischen Islam vertreten, wollen aber unbedingt Handy und Facebook haben. Ich nenne diese innere Zerrissenheit eine halbierte Moderne. Viele können diese Spannung nur durch Verschwörungsmythen aufrechterhalten und tragen sie gewalttätig aus.
Wird die traditionalistische Richtung mehr durch politische Strukturen aufrechterhalten oder durch religiöse? Es ist beides. Wir selbst finanzieren durch unseren Verbrauch von Öl und Gas die radikalen Regime in der arabischen Welt. Das haben mir Kurden im Irak immer wieder vorgehalten. Sie sagen, ihr beschwert euch über die Wahhabiten in Saudi-Arabien und gleichzeitig liefert ihr ihnen Waffen. Wir finanzieren selbst diese Regime, die einen radikalen Islam auf den Balkan oder nach Indonesien exportieren, den es dort vorher nicht gab.
Das Zweite ist, dass sich die islamische Theologie an einer verklärten Vergangenheit orientiert, die mit der Lebenswirklichkeit der jungen Muslime zusammenprallt. Die islamischen Gelehrten könnten ein Teil der Lösung sein, aber dafür müssten sie durch eine Phase der Selbstkritik gehen. Das steht leider aus. Es gibt mutige Leute, aber das ist eine absolute Minderheit.
Was vermögen die neuen Lehrstühle für islamische Religionspädagogik auszurichten? Die machen eine tolle Arbeit und ich kann die Inhalte nur unterstützen. Das Problem ist nur, dass die muslimische Basis, zumal die Frommen, nicht so weit ist. Der Staat fördert durch diese Lehrstühle einen liberalen Islam, aber dieser kommt in den Moscheen nicht an.
Könnte dieser liberale Islam nicht bei den jungen Menschen ankommen? Das wäre die Hoffnung. Aber dazu ist es notwendig, dass die konservativen Funktionäre der schrumpfenden muslimischen Verbände zugeben, dass sie die jungen Muslime immer weniger erreichen. Ebenso müssten liberale muslimische Theologen einräumen, dass sie nicht für eine schweigende Mehrheit sprechen, sondern diese erst gewinnen müssen. Konservative wie Liberale haben da noch große Hausaufgaben zu machen.
Wo liegt denn die Hoffnung für einen liberalen Islam, wenn die Jungen sich mental längst abgemeldet haben? Ich erlebe derzeit sehr ermutigend, dass sowohl konservative wie liberale Muslime positiv auf meine Beobachtungen zur Krise des Islam reagieren. Sie sehen selbst, dass gebildete und junge Menschen kaum mehr in die Moschee kommen.
Wie konkret und nachhaltig ist der Bildungsaufstieg muslimischer Frauen? An den Universitäten in Europa gibt es mehr muslimische Studentinnen als muslimische Studenten. Da sind die Frauen erfolgreicher. Das wird häufig damit erklärt, dass sie auch in der Familie Verantwortung übernehmen und Bildung als etwas Befreiendes erleben, das ihnen neue Welten öffnet. In Blütezeiten des Islam hatten Frauen auch als Gelehrte eine wichtige Stimme. Erst im Niedergang des 16. Jahrhunderts sind sie fast völlig verstummt.
Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschafter. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet. Er leitet das Referat "Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak" im Staatsministerium Baden-Württemberg. Soeben erschien sein Buch "Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug", 192 S., 19,60 €, Patmos 2017.