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Der Mensch ist mehr als sein Körper: Anthroposophische Medizin auf dem Prüfstand

Die anthroposophische Medizin setzt auf die Heilkräfte des Einzelnen und auf natürliche Heilmethoden. Doch die Wirksamkeit abseits des Placeboeffekts bleibt strittig.

Was taugen Heilmittel aus der anthroposophischen Medizin zur Bekämpfung von Covid-19?
Was taugen Heilmittel aus der anthroposophischen Medizin zur Bekämpfung von Covid-19?

Die anthroposophische Medizin gerät während der Coronapandemie immer wieder in Verruf, eine esoterische Verschwörungstheorie von impffeindlichen Aluhutträgern zu sein. Doch ist dem wirklich so? Was ist die anthroposophische Medizin überhaupt und woher kommt sie?

Die Anthroposophie (Griechisch: Die Weisheit vom Menschen) wurde von dem Gründer der Waldorfschulen, Rudolf Steiner, zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Sie ist eine Weltanschauung, die auf die geistige Entwicklung des Menschen gerichtet ist.

"Die Gesundheit ist die goldene Mitte"

Aus dieser Denkrichtung heraus hat sich die anthroposophische Medizin entwickelt. "Es ist ein System, in dem der Mensch nicht nur in seiner Körperlichkeit angeschaut wird. Denn der Mensch besteht aus einem geistigen und seelischen Kern - diese zwei Kräfte beeinflussen dann wiederum den Körper", erklärt der anthroposophische Mediziner Albrecht Warning. In der anthroposophischen Medizin sei die Krankheit nicht der Gegensatz zur Gesundheit, sagt Warning: "Die Gesundheit ist die goldene Mitte" - und die Krankheit befinde sich ganz am linken bzw. rechten Rand des Spektrums.

Bezogen auf Covid-19 sieht Warning das Problem nicht allein beim Virus verhaftet, sondern, wie empfänglich wir dafür sind: "Der Mensch nimmt die Coronaviren an und wird krank", sagt der Mediziner. Es gehe darum, wie man sich innerlich stärken könne, damit man sich nicht anstecke, macht er klar. Die Zellen seien keine separate Einheit. Laut Warning beeinflussen unser "Tagesdenken" sowie "unbewusste Kräfte" die Zellen und damit direkt unsere Disposition für Krankheiten.

Geht es nach anthroposophischen Ärzten, ist die Abwägung bezüglich einer Coronaimpfung individuell zu betrachten. "Es ist eine persönliche Entscheidung", findet auch Albrecht Warning. Jeder müsse selbst wissen, ob er eine Coronaerkrankung allein überstehen könne oder ob er die Impfung brauche, ergänzt er. Impfen müsse man dann, sobald man sage: "Das ist zu viel für mich, das schaffe ich nicht", erklärt der Mediziner.

Laut Anthroposophen hat der Körper eine eigene innere Kraft

Warning verleugnet aber auch nicht, dass das Coronavirus extrem an den Körper geht und sich nicht nur geistig bearbeiten lässt. Deshalb gibt es in der anthroposophischen Medizin auch Heilsubstanzen wie die Thuje, auch Lebensbaum genannt, oder Thymian. Laut den Anthroposophen hat der Körper eine eigene innere Kraft - und mit individuellen Heilsubstanzen wird diese Kraft aufgerufen. Der Körper braucht also einen gewissen Anreiz von außen, um seine volle, ureigene Heilkraft entwickeln zu können.

Beileibe nicht alle Wissenschafter sind mit diesen Ansichten einverstanden. Der deutsche Physiker Holm Gero Hümmler etwa hat mehrere Bücher geschrieben, in denen er unter anderem die anthroposophische Medizin sehr kritisch betrachtet. "Diese Medizin entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Basis. Wenn die Theorien stimmen würden, dann wäre die gesamte Physik falsch", sagt der Forscher.

Er sieht das Problem darin, dass die anthroposophische Medizin ihren Ursprung nicht in der Wissenschaft hat, sondern auf Basis von "hellseherischen Schauungen" Rudolf Steiners entwickelt wurde, der die Naturwissenschaft eher als Feind gesehen habe. Holm Gero Hümmler sagt, dass man immer irgendeine Studie finden könne, die eine Wirksamkeit bestätige, wenn man nur lange genug danach suche. Aber die Rahmenbedingungen mancher Studien seien nicht wissenschaftlich - und deshalb auch nicht haltbar. "Das Gesamtbild ist vernichtend und antiwissenschaftlich", sagt er.

In der anthroposophischen Medizin herrscht die totale Subjektivität

In der anthroposophischen Medizin herrsche die totale Subjektivität im Gegensatz zu der anerkannten Wissenschaft - hier gehe es um Intersubjektivität. "Die Wissenschaft ist ein evolviertes System, um sicherzustellen, dass man sich nicht irrt", stellt Hümmler fest. Die anthroposophische Medizin habe kein solches System, sondern ziele auf individuelle Erfahrung ab: Haben zwei Menschen die gleiche Krankheit, ist diese dennoch individuell zu sehen. Ein Schnupfen ist also nicht einfach ein Schnupfen, sondern hat einen persönlichen Hintergrund.

Diese Sichtweise könne gefährlich werden. Holm Gero Hümmler erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem die Misteltherapien bei Krebserkrankungen: "Es gibt immer wieder Fälle, wo Patienten aufgrund dieser alternativen Therapien verstorben sind." Das Problem sei, dass Anthroposophen die Krankheit per se nicht vermeiden wollen, erklärt Hümmler. Es gehe den Anthroposophen nicht um einen Schutz. Die Krankheit soll den Körper vielmehr läutern und auf eine erweiterte geistige Ebene bringen.

Die anthroposophischen Mediziner pflegen ein "Karmadenken"

Das wurde vor allem bei der Masernimpfung immer wieder diskutiert. Das würden Anthroposophen so aber nie öffentlich sagen, ergänzt Hümmler: "Dieses ,Karmadenken' wird eher im ,inner circle' kundgetan. Sie glauben, dass man mit einer Masernimpfung den Kindern die Chance nimmt, auf eine höhere Ebene zu kommen." Hümmler vermutet, dass die Sicht auf die Coronaimpfung eine ähnliche sein dürfte. "Die Anthroposophen verleugnen den Schutz der Coronaimpfung nicht - aber dieser ist eigentlich nicht gewollt", sagt der Physiker.

Eine, die beide Seiten kennt, ist die deutsche Medizinerin Natalie Grams-Nobmann. Sie hat zehn Jahre lang Homöopathie sowie ganzheitliche Medizin praktiziert und fühlte sich auch der anthroposophischen Denkrichtung nahe - bis sie selbst ein Buch zu der Wirksamkeit verfassen wollte und daraus genau das Gegenteil entstand: eine Abhandlung darüber, dass diese Art der Medizin kaum eine wissenschaftliche Basis hat.

"Wissenschaft ist oft kontraintuitiv und spaßbefreit, aber sie liefert Wissen"

Grams-Nobmann ist derzeit im öffentlichen Gesundheitswesen tätig und macht sich für die Impfung stark. "Wissenschaft ist einfach oft kontraintuitiv und spaßbefreit, aber sie liefert Wissen", sagt sie. Die Wirksamkeit der anthroposophischen Medizin sowie der Homöopathie laufe nur über "die Placeboschiene". "Aber der Placeboeffekt ist bei jeder Medizin dabei - sie haben den Effekt nicht für sich gebucht", stellt Grams-Nobmann fest.

Es gebe einfach keine haltbaren Belege für diese Art von Medizin, die über den Placeboeffekt hinausgingen, ergänzt die Medizinerin. Sie habe einen Fehler gemacht, weil sie das jahrelang ausgeblendet habe. Aber sie sieht auch gute Ansätze in der anthroposophischen Medizin: "Wir Menschen sind hochkomplexe Wesen und haben einen hohen psychischen Anteil." Menschen individuell zu betrachten und nicht nur als Fälle, ihnen zuzuhören - das allein würde den Heilungsprozess schon forcieren. "Dafür brauche ich keine Kügelchen" , sagt Grams-Nobmann.

Es sei schlichtweg unlauter, diese normalen Selbstheilungskräfte des Körpers als Erfolg der Heilungsmethode zu verbuchen. "Ich hätte sehr gern bewiesen, dass es wirkt - und würde mir das einer beweisen, dann würde ich sofort wieder eine Praxis eröffnen", sagt Natalie Grams-Nobmann. "Aber das konnte bis jetzt keiner."