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Forschen an der Existenzgrenze: Wo der Klimawandel in den Alpen sichtbar ist

Gletscher schmelzen, Felsen stürzen, Schlammlawinen donnern ins Tal hinab: Die Erderwärmung verändert den Lebensraum in den Alpen. Eine Wanderung in den Hohen Tauern - auf den Spuren des Klimawandels.

Das Schlatenkees im Nationalpark Hohe Tauern ist in den vergangenen 150 Jahren kontinuierlich zurückgegangen.
Das Schlatenkees im Nationalpark Hohe Tauern ist in den vergangenen 150 Jahren kontinuierlich zurückgegangen.

Schritt für Schritt wird es unwirtlicher. Wo gerade noch Lärchen und Zirben den Wanderweg säumten, besiedeln nun Hochstauden mit riesigen Blättern, Farne und Alpenampfer den Hang. Bald lichtet es sich weiter, Gräser und kahles Gelände geben die Sicht auf das Schlatenkees frei - den Gletscher des Gschlösstals im Herzen des Nationalparks Hohe Tauern.

Dort war Biologin Evelyn Brunner bis vor Kurzem gemeinsam mit fünf Forschenden unterwegs, um das Gebiet zu kartieren. Zehn Prozent der Gesamtfläche des Nationalparks konnten so abgesteckt werden. Zwei Jahre lang ging das Team vom Naturraumplanungsbüro Revital anhand von Satellitendaten Meter für Meter des Gebiets ab, kämpfte sich mit Stöcken durch das Gestrüpp, um Hangneigungen, Reliefs und Biotoptypen zu erheben.

"In höheren Lagen passt sich die Natur an extreme Wetterbedingungen an "
Evelyn Brunner
Biologin

"Es war eine Detektivarbeit", sagt Brunner und lässt ihre Hände über Alpenheiden und Almrosenblüten gleiten. "In höheren Lagen passt sich die Natur an extreme Wetterbedingungen an", erklärt sie. Manche der Pflanzen verfügen über ein ausgeklügeltes Feinwurzelsystem - für mehr Halt. Und: um besser an Nährstoffe zu gelangen. Andere sammeln höhere Temperaturen unter großen Blättern und schaffen sich so ihr eigenes Mikroklima.

Langzeitmonitoring misst Einfluss des Klimawandels

Die Natur im alpinen Gelände ist es gewohnt, Kälte und extremen Witterungsbedingungen zu trotzen. Aber auch an ihr geht der Klimawandel nicht spurlos vorüber. Die Kartierung bildet die Basis für das sogenannte Langzeitmonitoring - ein Projekt der Nationalparks Austria. Wie verändert sich der Zeitpunkt der Schneeschmelze? Wie lange dauert es, bis sich Pflanzen ansiedeln, sobald Gletschereis schmilzt? Diese und andere Fragen sollen in dem Projekt, das für eine Dauer von 100 Jahren angelegt ist, geklärt werden. Erste Erkenntnisse gibt es bereits.

Die Baumgrenze ändert sich

Auf 2112 Metern Seehöhe zeigt Christian Körner auf hochgewachsene Lärchen. "Hier haben sich erstaunlich viele hohe Bäume angesiedelt", sagt der emeritierte Botaniker der Universität Basel. "Der Klimawandel verschiebt die Baumgrenze", erklärt er. Denn: Wenn es weiter unten wärmer wird, "suchen sich Bäume kühlere Gefilde und wandern regelrecht nach oben", erklärt Körner. Forschende rechnen damit, dass sich die Baumgrenze in den kommenden 200 Jahren rund 200 bis 300 Meter nach oben verschieben wird.

"Wenn es wärmer wird, suchen sich Bäume kühlere Gefilde und wandern nach oben "
Christian Körner
Botaniker

Oberhalb der Baumgrenze bildet sich ein Mosaik an Lebensräumen. In Schneetälchen lagert sich Schnee ab, der teilweise bis lange in den Sommer hinein liegen bleibt. Mulden und Hügelchen bilden kleine "Inseln", in denen Pflanzen und Tiere auf engstem Raum zusammenleben. In den wenigen Metern solcher Mulden können Klimakontraste extrem sein.

Auch hier hinterlässt der Klimawandel Spuren: "Arten werden in die nächste kühlere Insel springen, wenn es ihnen zu heiß wird", sagt Körner. Lokale Artenverluste könnten auftreten, Verbreitungsgrenzen von Arten könnten sich verschieben. "Wir beobachten diese kleinräumigen Mosaike, um Rückschlüsse auf die Lebensbedingungen in der großen Landschaft zu ziehen", sagt der Botaniker.

Schlatenkees geht seit 150 Jahren zurück

Das Schlatenkees zur Rechten des Wanderwegs wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Noch bis in das Jahr 1860 reichte die Gletscherzunge weit in das Tal hinein. Dort liegen nun Schutt und Kiesel. "Wenn jemand den Klimawandel sehen will, muss er sich natürlich den Gletscher ansehen", sagt Körner. Seit mehr als 150 Jahren ist der Gletscher kontinuierlich zurückgegangen.

BILD: SN/NPHT/FLORIAN JURGEIT
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BILD: SN/NPHT/SARAH WENDL
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Das verändert nicht nur das alpine Gelände und wirkt sich auf die Temperatur aus. Pro Grad Klimaerwärmung erwarten Forschende, dass es zehn Prozent mehr Niederschlag geben wird. Extreme Wetterbedingungen wie Starkregen und Hochwasser werden häufiger. "Generell hat das Schwinden der Gletscher für den Menschen noch viel gravierendere Auswirkungen als für die Natur", sagt Körner.

Sattelkar: Hangrutschungen durch auftauenden Permafrost

Szenenwechsel: Die Sulzbachtäler auf der Salzburger Seite der Hohen Tauern zählen zu den unberührtesten Flecken des Landes. Bei der Wanderung im Obersulzbachtal zur Hofrat-Keller-Hütte rauscht der Obersulzbach durch das Tal. Auch hier thront am Talende ein Gletscher: das vom Großvenediger herabreichende Obersulzbachkees.

In der Mitte des Tals prangt ein hausgroßer Felsblock. Das "Sattelkar" war bis 2005 mit Grasteppichen übersät. Dann begannen Hangrutschungen - riesige Felsblöcke donnerten in das Tal, meterbreite Spalten entstanden. Nun wirkt das Kar wie eine Mondlandschaft, der Fuß des Hangs ist weitgehend lebloses Gelände.

Am Sattelkar dominierten früher Grasteppiche die Landschaft, nach einer Großrutschung entstanden hausgroße Felsblöcke und meterbreite Spalten.
Am Sattelkar dominierten früher Grasteppiche die Landschaft, nach einer Großrutschung entstanden hausgroße Felsblöcke und meterbreite Spalten.

Ingo Hartmeyer ist einer der Geschäftsführer des Salzburger Forschungsinstituts Georesearch in Puch und studiert dieses Gebiet seit Jahren. Sein Team installierte Temperatursensoren. Mit Drohnen werden die Kare regelmäßig vermessen. Erschütterungsmessungen erkennen, ob Felsmassen über die Karschwelle herabstürzen.

"Wir werden lernen müssen, mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen umzugehen "
Ingo Hartmeyer
Geomorphologe

"Wir konnten sehen, dass sich das Gelände in den vergangenen 20 Jahren stark verformt hat", sagt Geomorphologe Hartmeyer. Er zeigt Grafiken mit Vergleichswerten aus den Jahren 2010 und 2021. "Seit 2010 hat sich eine halbe Million Kubikmeter Schuttmaterial abgelagert", sagt er. Ein weiterer Teil sei durch den Obersulzbach abtransportiert worden.

Von oben betrachtet: die Sattelkarrutschung im Obersulzbachtal.
Von oben betrachtet: die Sattelkarrutschung im Obersulzbachtal.

Temperatur in den Alpen um zwei Grad gestiegen

"Die Alpen sind überproportional stark durch den Klimawandel betroffen", sagt Hartmeyer. Grob ab dem Jahr 1850 begann der Mensch durch vermehrte CO2-Emissionen immens in die Natur einzugreifen. Während die Temperaturen seit damals weltweit um durchschnittlich ein Grad gestiegen sind, waren es in den Alpen im Schnitt zwei Grad. Das führt nicht nur dazu, dass Gletscher schmelzen. Auch Permafrost, also der gefrorene Boden, geht zurück. "Das bringt Dominoeffekte mit sich", erklärt Hartmeyer. Etwa Risiken wie Murgänge, Steinschläge und Felsstürze - wie beim Sattelkar. Denn: "Permafrost stabilisiert die Schuttmassen." Wenn es wärmer werde und es mehr Niederschlag gebe, könne die Schuttmasse in Bewegung gesetzt werden.

Frühwarnsysteme sollen Prävention bieten

Auch der tragische Gletscherabbruch auf der Marmolata in den Dolomiten Anfang Juli zeigt, wie schnell Geländeformationen, die über Jahrtausende stabil waren, plötzlich kollabieren können. Schneearme Winter und ungewöhnliche Wärme in den Alpen können zu gefährlichen Situationen führen.

Um die Prozesse besser zu verstehen, sollen Analysen aus dem Nationalpark Hohe Tauern weitere Erkenntnisse liefern. "Wir wollen Risiken, etwa für den Siedlungsraum, frühzeitig erkennen", sagt Hartmeyer von Georesearch. Auf dieser Basis sollen Präventionssysteme aufgebaut werden - etwa Hochwasserschutz und Frühwarnsysteme. Denn, wie Hartmeyer es formuliert: "Wir werden lernen müssen, mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen umzugehen."

Ein Murmeltier im Obersulzbachtal im Nationalpark Hohe Tauern.
Ein Murmeltier im Obersulzbachtal im Nationalpark Hohe Tauern.