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Mehr enge Freundschaften treiben Polarisierung voran

In den vergangenen Jahrzehnten sind die gesellschaftliche Polarisierung und die Anzahl enger sozialer Kontakte messbar gestiegen, zwischen 2008 und 2010 besonders stark. Anhand dieser Erkenntnis und mithilfe eines Modells errechneten Wiener Komplexitätsforscher einen Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen. Demnach führt ein höherer Grad an Vernetzung zu stärkerer Polarisierung, berichten sie im Fachblatt "Proceedings" der US-National Academy of Sciences (PNAS).

Mehr 'best friends' könnten zu mehr Polarisierung führen
Mehr 'best friends' könnten zu mehr Polarisierung führen

Um die Polarisierung zu messen, nutzte das Forscherteam über 27.000 Umfragen aus einem Zeitraum von 1999 bis 2017 des "Pew Research Center", das in den USA in regelmäßigen Abständen politische Einstellungen abfragt. Für die Analyse der Freundschaftsnetzwerke wurden 30 Umfragen aus Europa und den USA zwischen 2000 und 2024 mit über 57.000 Befragten verwendet.

Jahrzehntelang hätten soziologische Studien gezeigt, dass Menschen im Durchschnitt zwei enge Freundschaften haben. Das sind Beziehungen zu Personen, mit denen man über alles redet - von Politik über Sexualität bis zu Partnerschaft - und die die eigene Meinung in wesentlichen Dingen beeinflussen können, erklärte Stefan Thurner vom Complexity Science Hub (CSH) gegenüber der APA. Dementsprechend lag die Zahl im Jahr 2000 auch bei durchschnittlich 2,2 Freunden, 2008 verdoppelte sie sich auf vier bis fünf.

Gleichzeitiger, schneller Anstieg bemerkenswert

Der Grund für diesen plötzlichen Anstieg könnte die Einführung des Smartphones und die daraus resultierende viel bessere Erreichbarkeit sein, vermuten die Forschenden. Noch nicht ganz klar sei hingegen, wieso und ob die Sozialen Medien zu mehr engen Freundschaften geführt haben.

Diese Beziehungen sind dabei laut Thurner nicht der einzige Faktor, der die Polarisierung beeinflussen kann. Mit dem Jahr 2008 assoziiere man etwa die Finanzkrise und ihren Einfluss auf die ökonomische Ungleichheit. "Aber was äußerst bemerkenswert ist, ist der gleichzeitige Sprung in den Daten bei den beiden untersuchten Phänomenen. Demgegenüber geht die Schere zwischen arm und reich etwa seit den 1970er-Jahren, meist graduell, immer weiter auseinander", sagte er.

Modell zeigt gesellschaftlichen Phasenübergang

Anhand eines mathematischen Gesellschaftsmodells untersuchten Thurner und sein Team den Zusammenhang zwischen Meinungen und sozialen Interaktionen. "Ganz einfach erklärt bildet das Modell jede Person als Avatar ab. Jeder Avatar hat einige Dutzend Meinungen zu verschiedenen Themen, etwa in Bezug auf das Wahlverhalten, zur Todesstrafe oder zu Veganismus", sagte er. "Wenn sich nun zwei Personen treffen, vergleichen sie ihre Meinungen. Dabei entscheidet die Ähnlichkeit der Meinungen über die Frequenz bzw. Intensität der Beziehung."

Im Modell zeichneten die Forschenden die Entwicklung zwischen 2008 und 2010 nach (für die Zeit danach gibt es in den untersuchten Umfragen laut Thurner keine Daten zur Polarisierung, Anm.). Wegen der höheren Anzahl von engen Freundschaften verdichtete sich das Netzwerk und die Interaktionen wurden dynamischer. Dabei stellten sie fest, dass die Polarisierung dann stark zunimmt, wenn eine kritische Freundschaftsdichte irgendwo zwischen drei und vier Personen erreicht wird. Man könne sich das wie den Phasenübergang von Wasser zu Eis vorstellen, so der Forscher. Bei null Grad verändern sich die Interaktionen im System und damit seine Eigenschaften drastisch.

Warum es bei mehr Interaktionen weniger Toleranz braucht

"Wenn ich zwei Freunde habe, tue ich alles, damit ich sie nicht verliere und bin ihnen gegenüber dementsprechend sehr tolerant. Wenn ich aber fünf habe und es wird mit einem davon schwierig, ist es einfacher, den Fünften auszutauschen und mir jemand anderen zu suchen", erklärte Thurner.

Der Haupteffekt davon ist, dass Menschen mit ähnlichen Meinungen immer stärker in sogenannten Bubbles zusammenfinden. Zwischen diesen Blasen finde dann kaum mehr Austausch statt. Das sei ein Stück weit kontraintuitiv: Oft werde angenommen, dass mehr soziale Vernetzung bzw. Gespräche mit Menschen, die anderer Meinung sind, zu höherer Toleranz führen würden.

Zudem basiere Demokratie darauf, dass alle Teile der Gesellschaft bei Entscheidungsfindungen miteinbezogen werden müssen. Wenn unterschiedliche Gruppierungen nicht mehr miteinander reden können, funktioniere dieser demokratische Prozess auch nicht mehr. "Man lernt Toleranz zwar ein Stück weit in Kindergarten und Schule, aber angesichts der Ergebnisse wäre es für demokratische Gesellschaften sicher wichtig, dieses Thema früh und proaktiv anzugehen", so Thurner.

(SERVICE - Internet: https://doi.org/10.1073/pnas.2517530122)