Sofia Pinaeva ist eine feinfühlige, humorvolle und agile Musikerin, Musiklehrerin und Fotografin. Die 28-jährige, aus Russland stammende Wahlgrazerin musste sich im Vorjahr einer Hirntumor-Operation unterziehen. Im der Grazer Universitätsklinik für Neurochirurgie wurde der Tumor (teil)entfernt. Das Besondere daran: Sie war während des Eingriffs nicht nur bei Bewusstsein, sondern hat eineinhalb Stunden lang während mit ihrer Querflöte musiziert. "Ich spielte Bach, Mozart und Prokofjew - ein Russe musste unbedingt dabei sein", sagt Sofia Pinaeva.
Die "Musikstunde" im Operationssaal bedeutete auch für das erfahrene Grazer Wach-OP-Team eine Premiere. Den Hintergrund für das ungewöhnliche Konzert erläutert Michael Mokry, der Vorstand der Klinik für Neurochirurgie: "Bei der Entfernung von Gliomen - Hirntumoren des Zentralnervensystems- besteht die Gefahr, dass Funktionsstörungen entstehen können." Aus diesem Grund werden Patienten bei Wachoperationen in Situationen versetzt, die ihrem täglichen und beruflichen Leben nahekommen. Mathematikaufgaben lösen beispielsweise, Saurier auf einem Bildschirm erkennen oder - wie im Fall von Sofia Pinaeva - eben musizieren. Die ansprechbaren Patienten werden so zum aktiven Teammitglied bei der Operation. Die dem Tumor nahe gelegenen Gehirnareale werden mit kurzen, elektrischen Impulsen stimuliert. Über die Reaktionen der Patienten erfahren die Mediziner, wo wichtige, individuelle Funktionen vorliegen. Gord von Campe, der Leiter des Grazer Wach-OP-Teams: "Bei Sofia Pinaeva war es das klare Ziel, ihre feinmotorischen Fähigkeiten und ihren Sehsinn im vollem Umfang zu erhalten." Bei einer Komplettentfernung des Glioms hätte die Gefahr bestanden, dass die 28-Jährige ihre Karriere als Musiklehrerin oder Fotografin hätte aufgeben müssen. "Ich habe alles gespielt, was mir so eingefallen ist: von der ,Kleinen Nachtmusik' bis zur Arie der Königin der Nacht", berichtet die Russin.
Rund zwei Stunden der insgesamt sechs Stunden dauernden Operation sei sie bei vollem Bewusstsein gewesen: "Ich kann mich an alles genau erinnern. Auch daran, dass ich mich einmal verspielt habe." Da der Eindruck hätte entstehen können, dass mit ihr etwas nicht stimme, habe sie das Ärzteteam sofort aufgeklärt: "Ich habe das Stück einfach lang nicht gespielt, deshalb ist der Fehler entstanden."
Möglich ist die Methode der Wachoperationen, weil das Gehirn selbst schmerzunempfindlich ist. "Betäubt werden nur die Haut und die Muskeln, die Patienten haben also keine Schmerzen", berichtet Mokry. In den vergangenen sechs Jahren wurden in Graz rund 100 Gehirntumoren im Rahmen von Wachoperationen entfernt. Heuer gab es schon 18 Fälle, gleich viel wie im gesamten Vorjahr. Die psychische Belastung für die Patienten sei, so der Klinikvorstand, kaum höher als bei einer klassischen Operation. Die Dauer der Wachphase hängt in der Praxis von der Konzentrationsfähigkeit der Patienten ab. Hier seien, sagte Gord von Campe, die Anästhesisten gefordert, die eine richtige Balance finden müssen.
Bereits fünf Tage nach der Operation hat Sofia Pinaeva Freunde und Verwandte zu einem Gartenfest eingeladen. "Ich kann heute wieder ein ganz normales Leben führen", sagt die 28-Jährige, die anderen vorzeigen will, das die Diagnose Gehirntumor "nicht einem Todesurteil gleichkommt". Noch im OP-Saal hat sie sich mit einem Flötenständchen bei den Medizinern bedankt: "Hoch soll'n sie leben!"