Im Mittelhirn befindet sich der "Colliculus superior". Dort übernimmt das kleine Gehirnareal die Aufnahme von Sinnesreizen und leitet Reaktionen darauf ein. Forscher vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg (NÖ) konnten nun Eigenheiten bei der Bildung dieser Struktur entschlüsseln und zeigen, wie die Hemmung eines Gens dort Chaos auslöst. Die Erkenntnisse könnten miterklären, wie es zu Autismus oder ADHS kommt.
In langwieriger Forschungsarbeit hat das Team um Giselle Cheung sozusagen die Entwicklungsgeschichte des wichtigen Gehirnareals entschlüsselt. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter hefteten sich an die Fersen der Ausgestaltung der verschiedenen Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen - gewissermaßen Stützzellen mit vielen weiteren Funktionen im Nervensystem - aus den Stammzellen im Colliculus superior.
Beteiligt waren neben Gruppen vom ISTA auch Experten vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Medizinischen Universität Wien. Die Ergebnisse wurden nun im Fachmagazin "Neuron" vorgestellt.
Obwohl dieses Hirnareal "zum Beispiel die unbewusste Bewegung der Augen oder des gesamten Kopfes" steuert oder "eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Konzentration" spielt, wisse man noch relativ wenig über die Entwicklung vom Embryo bis zum Erwachsenen, so Cheung in einer Aussendung des ISTA. Mit Hilfe neuer Methoden konnten die Wissenschafter jetzt nachverfolgen, aus welchen Stammzellen die zum Beispiel die Reizweiterleitung fördernden (erregenden) oder hemmenden Neuronen entstehen und wie sie sich verteilen.
Dabei zeigte sich, dass die Stammzellen in der speziellen Hirnregion über längere Zeit ihre Fähigkeit behalten, sich in alle möglichen Zellen zu entwickeln. Das ist in anderen Teilen des Gehirns anders. Ein weiteres Unikum des Colliculus superior ist offenbar, dass dessen grundsätzliche Bildung nur wenige Tage dauert, und sich die Struktur nicht Schicht für Schicht, sondern mehr oder weniger in einem Zug aufbaut. Dies würde "das außergewöhnliche Potenzial der neuronalen Stammzellen im Colliculus superior, das uns bisher unbekannt war", zeigen, so Forschungsgruppen-Leiter Simon Hippenmeyer.
In der Folge untersuchte man, was passiert, wenn ein bestimmtes Gen - "Phosphatase and tensin homolog", kurz "Pten" - ausgeschaltet wird. Dieser Erbgut-Baustein wird als ein Faktor bei der Entstehung von Autismus oder der Bildung eines außergewöhnlich großen Kopfes (Makroenzephalie) angesehen.
Spielte Pten in der Entwicklung keine Rolle, wurden deutlich mehr hemmende Neuronen gebildet. Damit geht in der Gehirnregion sozusagen die Balance verloren. "Wir denken, dass die Störung dieses Gleichgewichts im Colliculus superior zu einem Defizit bei der Verarbeitung sensorischer Signale führen könnte, was möglicherweise Störungen wie Autismus und ADHS (Aufmerksamkeits- Defizitsyndrom, Anm.) erklärt", so Hippenmeyer.
