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Neue Initiative: Ein Atlas aller Lebewesen - Zelle für Zelle

Forscher wollen mit Biodiversity Cell Atlas jede Zelle aller Tiere, Pflanzen und Pilze der Erde kartieren. Ziel ist Verständnis des Lebens auf Einzelzellniveau.

Biodiversitäts-Zellatlas soll Zellen aller Lebewesen der Erde erfassen
Biodiversitäts-Zellatlas soll Zellen aller Lebewesen der Erde erfassen

Eine neue Initiative hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, jede Zelle aller Lebewesen auf der Erde - Tiere, Pflanzen, Pilze und einzellige Organismen wie Algen - zu kartieren. Einen entsprechenden Leitfaden (Whitepaper) hat ein internationales Forscherteam mit österreichischer Beteiligung am Mittwoch im Fachjournal "Nature" vorgestellt. Der Biodiversitäts-Zellatlas soll es Experten ermöglichen, Leben auf Einzelzellniveau zu verstehen, aber auch den Naturschutz unterstützen.

"Die Komplexität von mehrzelligen Organismen lässt sich am besten über die Diversität ihrer verschiedenen Zelltypen erfassen", erklärte einer der Initiatoren, der Entwicklungsbiologe Ulrich Technau vom Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie der Universität Wien, gegenüber der APA. Diese würden sich durch die Aktivität ihrer spezifischen Gene (Transkriptom) unterscheiden, die sich durch Einzelzell-Genomik-Methoden (single cell genomics) erfassen lässt. "Und damit sind wir nun erstmalig in der Lage, die Komplexität und Vielfalt von theoretisch allen multizellulären Organismen zu ermitteln. Dies ist das Ziel der Initiative", so Technau.

Genomsequenzierung hat Biologie grundlegend verändert

Der Biodiversity Cell Atlas (BCA) konzentriert sich auf Eukaryoten. Zu diesen Lebewesen, die einen echten Zellkern besitzen, zählen alle Tiere, Pflanzen, Pilze sowie viele Einzeller wie Algen (Protisten). 1996 wurde das erste Genom eines eukaryotischen Lebewesens sequenziert, jenes der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae). Bald darauf folgte die Entschlüsselung der ersten Tier- und Pflanzengenome bis zum ersten Entwurf des menschlichen Genoms 2001. "Diese Genomsequenzierung hat die Biologie in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend verändert", schreibt das Forschungsteam um Arnau Sebé-Pedrós vom Centre for Genomic Regulation (CRG) in Barcelona (Spanien), dem auch Technau angehört, in "Nature".

Trotz des wachsenden Wissens über die Abfolge der chemischen Bausteine der Erbsubstanz der verschiedenen Arten sei noch nicht klar, wie diese Genome die Vielfalt der Zellen und Funktionen schaffen und wie die Evolution die enorme zelluläre Vielfalt auf der Erde geprägt hat. Der BCA will diese Lücke schließen. Ziel sei es zu verstehen, wie jede Zelle die in der DNA gespeicherten genetischen Informationen entschlüsselt und interpretiert. "Die vergleichende Perspektive des Biodiversitäts-Zellatlas wird uns helfen, Zelltypen, Zellzustände und Genbausteine über Organismen und Zeitskalen hinweg systematisch zu beschreiben und zu interpretieren", schreiben die Forscher.

In einzelnen Modellorganismen habe die Entschlüsselung der Biodiversität auf zellulärer Ebene das Wissen um evolutionäre Prozesse und Ursprünge revolutioniert, betonte Technau. Nun soll dies im großen Maßstab angewendet werden.

Karte des Lebens

Das Leben auf Einzelzellniveau zu verstehen habe über die Grundlagenforschung hinaus potenzielle Auswirkungen auf viele verschiedene Bereiche, betonen die Forscher und nennen etwa Naturschutz, industrielle Anwendungen und Arzneimittelforschung. Durch den Vergleich von Zelltypen und Genexpressionen über Arten und Lebensstadien hinweg soll "eine Karte des Lebens erstellt werden, die mehr über die Biologie jeder Zelle und ihre Interaktion mit den umgebenden Zellen verrät".

"Wir lernen dadurch auch etwas über die Anpassung dieser Organismen an die Umwelt und ihre Fähigkeit auf den Klimawandel zu reagieren", so Technau. Zudem biete sich die Chance, neue Zelltypen mit unerwarteten Eigenschaften zu identifizieren, die auch von biomedizinischem Interesse sein könnten, etwa spezielle Immunzellen oder Zellen, die den Alterungsprozess von Tieren aufhalten und ihre Regenerationsfähigkeit ermöglichen können.

Charakterisierung von Ökosystemen

Sebé-Pedrós nennt gegenüber der APA auch den Einsatz von Einzelzelltechnologien zur Charakterisierung von Ökosystemen mit späteren Anwendungen für das Biomonitoring als Beispiel. So könnte man etwa Einblicke in die Symbiose von Korallen und deren Störung durch Hitzestress auf zellulärer und molekularer Ebene erhalten.

In der "Nature"-Publikation beschreibt das Team die erste Phase des Biodiversitäts-Zellatlas, in der Protokolle zur Analyse der Genexpression einzelner Zellen verschiedener Arten getestet und verglichen werden. So soll ein universeller Prozess zur standardisierten Erfassung, Sequenzierung und Verarbeitung von Daten entwickelt werden, um sicherzustellen, dass der Atlas weltweit erstellt und genutzt werden kann. Geleitet wird das globale Vorhaben von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern des Wellcome Sanger Institute und des CRG.