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Ohne Panik in die Pension

Der Wechsel in diesen Lebensabschnitt kann einen Schock auslösen. Der Rat lautet, sich eine Brücke zu bauen und Zeit zu lassen, um alte und neue Leidenschaften zu entdecken.

Symbolbild.
Symbolbild.

Viele Menschen verbinden mit dem Wort Ruhestand Freiheit und unbegrenzten Urlaub. Für andere ist der Wechsel in die Pension fast ein Schock, denn das Leben und der Alltag ändern sich gravierend. Es lohnt sich, sich in jedem Fall mit der neuen Lebensphase auseinanderzusetzen. Erich Hotter kann dazu Auskunft geben. Er ist Psychologe, Spezialist für die Behandlung von Burnout, berät Unternehmen und hat sich nach seiner Pensionierung - für sich selbst zufriedenstellend - neu orientiert.

Wie haben Sie den Übergang empfunden? Erich Hotter: Mir hat als Grundhaltung ein Motto aus der Burnout-Forschung gut gefallen: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Dieses Motto sollte man auch als Hinweis für den neuen Lebensabschnitt nehmen. Es ist eine Zeit der sozial akzeptierten Verantwortungslosigkeit. Ich muss einmal nichts leisten, ich muss nicht funktionieren. Wer kein konkretes Problem mit der Gesundheit und keine weitgehenden finanziellen Sorgen hat, sollte sich ein Sabbatical nehmen. Ich empfehle eine Neuorientierungsphase, eine Zeit, in der ich nachdenken kann, was ich tun möchte.

Vielen Menschen macht das Neue Angst? Die Umstellung ist groß. Es gibt Studien, die zeigen, wie sehr das Leben durch die Arbeit strukturiert ist. Der Wegfall dieser Struktur, die mit Anerkennung, Freundschaften, Sinn und Geld verbunden ist, macht Angst, denn all diese Komponenten sind wesentlich für das Leben. Das sehen wir anhand der Frage: Was machst du? Jahrzehntelang sind wir, was wir machen. Wir definieren uns stark über die Arbeit, die unsere Rolle in der Gesellschaft bestimmt.

Wie kommt man da heraus? Die Brücke, über die ich gehen würde, ist die Sabbatical-Idee. Die Brücke verhindert, dass man sich sofort panisch in etwas Neues hineinstürzt. Ich habe viele Menschen in meinem Umfeld, die ihr Wissen weiter einbringen und sinnvoll für die Gemeinschaft arbeiten möchten. Der direkte Übergang hat jedoch den Nachteil, dass ich nicht mehr darüber nachdenke, was mir noch Freude macht. Ich brauche Zeit, alte Leidenschaften, neue Interessen zu entdecken und zu schauen, was ich aus den Augen verloren habe. Eine solche Orientierungsphase hat sich bewährt. Strukturen nehmen uns viele Entscheidungen ab, wir verbieten uns aber auch vieles. Also kann man jetzt kindliche, spielerische Elemente zulassen. Man kann etwas ohne Druck ausprobieren. Das, was Menschen auch Angst macht, sind von Medien geprägte Bilder von Frauen und Männern, die mit leeren Gesichtern auf Parkbänken sitzen. Die Mehrheit der Ruheständler entspricht diesem Klischee aber ganz und gar nicht.

Wie war es für Sie persönlich? Für mich war es eine Chance, aus vielem auszusteigen. Ich habe radikal mit der Vereinfachung meines Lebens begonnen. Mit manchen Berufen sind Statusanforderungen verbunden, man muss oder sollte auf bestimmte Weise auftreten. Das lässt sich danach ändern. Die positive Psychologie geht davon aus, dass wir meistens nicht genau wissen, was uns glücklich macht. Vieles ist vermeintliche Selbstaufwertung auf begrenzte Zeit. Doch die meisten Menschen können es sich in Wahrheit nicht leisten, mit der Forderung nach ständiger Erneuerung von Status Schritt zu halten. Das ist dann auch Teil des Pensionsschocks für manche Leute, dass sie glauben, sie fallen aus ihrer sozialen Rolle, weil sie nicht mehr mithalten können, oder auch, dass sie damit nicht mehr als produktiv gelten. Doch diesen Stress kann man selbstbewusst und aktiv fallen lassen.

Wenn jemand abgerackert ist, hat er doch das Recht, nichts mehr zu tun? Ja, die Frage ist aber, wie wird jemand wahrgenommen? Die Mechanismen der Leistungsgesellschaft und ihre medial gesteuerten Bilder haben auch diese Lebensphase längst erreicht. Wir haben bis jetzt auch nicht speziell über diejenigen geredet, die sich ein Leben lang schwer abgerackert haben, um über die Runden zu kommen.

Abgesehen davon, dass jeder im Ruhestand das Recht hat, nichts zu tun, gilt auch für diese Menschen das Prinzip für ein zufriedenes Leben, das sich auf bestimmte Säulen stützt. Denn darum geht es: sich zufrieden und glücklich zu fühlen. Überhaupt nichts zu tun macht meistens nur depressiv.

Es wird für das Glücklichsein kein Patentrezept geben ... Nein, aber es gibt Lebensbereiche, die man beachten und gestalten kann. Das ist erstens die Positivität: Hier kommt wieder das Sabbatical ins Spiel. Ich nehme mir Zeit nachzudenken, wofür ich eine Leidenschaft habe, welche neuen Themen ich spannend finde, wo ich Gleichgesinnte finde. Es lohnt sich auch, Grundkenntnisse des Internets zu erwerben, wenn ich die noch nicht habe. Damit tut sich eine ganze Welt auf. All das ist nicht selbstverständlich. Es gibt Leute, die davon überzeugt sind, dass sie zu alt für Neues seien. Es ist klug, sich selbst realistisch einzuschätzen, aber es ist nicht klug, sich Möglichkeiten zu nehmen. Dahinter steckt meist die Überzeugung, dass Menschen von Natur aus in etwas gut sind oder nicht. Vergessen wird, dass man das meiste erlernen und üben muss. Wenn ich nichts mehr mache, wird die Welt enger. Wir sollten von den Kindern lernen, die aufgeschlossen, neugierig und lustig sind. Zur Positivität gehört auch, nicht ständig zu jammern und mürrisch zu sein. Ich kann eine Inventur des Schönen in meinem Leben machen und etwa durch Meditation versuchen, den grantigen Film in meinem Kopf zu kontrollieren. Das wirkt sich auf den zweiten Bereich aus. Dazu gehören meine Beziehungen. Mit einer Person, die alles schlechtredet, nur noch in der Vergangenheit lebt und grantig ist, möchte man weder reden noch Zeit verbringen.

Manche Menschen macht es glücklich, sich zu engagieren ... Ja, das kann wesentlich für ein zufriedenes Leben sein. In dem Bereich etwas zu finden ist einfach, denn für ehrenamtliche Arbeit, egal welcher Art, gibt es Stellen zuhauf. Wenn man eine Familie hat, kann man sich auch dort engagieren. Vorausgesetzt, die Kinder und Enkel oder Nichten und Neffen wollen das auch.

Das Engagement und die Beziehungen zusammen ergeben einen weiteren wesentlichen Bereich, den Sinn. Viktor Frankl, der große österreichische Neurologe und Psychiater, Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse, hat Sinn so definiert: Für ihn war das der Dienst am anderen und das Leben von Werten. Wenn ich meine Erfahrungen zur Verfügung stelle, kann ich das als sehr sinnvoll erleben. Ich kann auch versuchen, das, was mir an positiv Grundsätzlichem wichtig ist, zu vertreten und ihm Gültigkeit zu schaffen. Das kann Höflichkeit sein oder Meinungsfreiheit oder ein liebevoller Umgang mit Kindern oder was immer mir etwas wert ist.

Als letzten Bereich haben Sie die Entwicklung genannt. Gerade das hat man älteren Menschen lange Zeit abgesprochen. Hat sich das geändert? Das hat sich geändert, dank vieler neuer Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Psychologie. Menschen können sich bis zu ihrem Tod weiterentwickeln und Teile ihrer Persönlichkeit ändern. Im positiven Sinn hat das mit dem Wiederentdecken und dem Finden von etwas Neuem zu tun, über das wir vorhin gesprochen haben. Gut kann man das an Menschen sehen, die nach einem Burnout lernen müssen, die kreativen, spielerischen und vermeintlich unvernünftigen Seiten des Lebens wieder für sich zu erobern. Sie müssen lernen, sich wieder etwas zu erlauben. Damit kann Entwicklung ins Rollen kommen. Das ist, als ob sich Türen öffnen würden und frische Luft hereinkäme.

Entwicklung ist übrigens auch ein wichtiger Punkt, wenn man als Ehepaar in den Ruhestand geht oder wenn ein Partner noch arbeitet. Dann sollte man sich gegenseitig Zeit, Raum und die Freiheit geben und sich im günstigen Fall neu miteinander abstimmen.

DER INTERVIEWPARTNER
Erich Hotter ist Psychologe, Coach und Trainer mit dem Spezialthema Burnout. Er berät seit Jahrenzehnten österreichische Firmen und Institutionen. Seine Erfahrungen sind in seinem Buch "Die gefährlichsten Burnoutfallen und wie Sie ihnen entgehen" nachzulesen. Er und seine Kollegen der Arge Burnout kooperieren mit den Psychiatern der Medizinischen Universität Graz sowie mit dem anerkannten Burnout-Institut Hamburg (BIND).
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