Der Test auf SMA-Verdacht muss in das österreichweite Neugeborenen-Screening aufgenommen werden, forderten jetzt führende Experten in einem APA-Gespräch. Österreich hinkt in der Sache bereits hinter Deutschland her.
"Wir haben in Österreich seit 1966 ein Neugeborenen-Screening auf vergleichsweise seltene Erkrankungen, vor allem angeborene Stoffwechselerkrankungen, etabliert. Derzeit suchen wir dabei durch die Auswertung eines eingetrockneten Blutstropfens auf Löschpapier nach Hinweisen auf 29 solcher Erkrankungen, die möglichst frühzeitig behandelt werden müssen. Dazu gehört beispielsweise auch die Zystische Fibrose. Jetzt haben wir die Möglichkeiten, die Spinale Muskelatrophie wirksam zu behandeln, per Gentherapie eventuell zu heilen. Es ist dringend erforderlich, dass wir diese Chancen möglichst frühzeitig nützen", sagte Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Wiener Universitäts-Kinderklinik (MedUni Wien/AKH).
Der Hintergrund der Erkrankung, wie Günther Bernert, Spezialist für Neuropädiatrie (Österreichische Muskelforschung) erklärte, ist gut erforscht: "Die SMA ist mit einer Häufigkeit von einem Fall bei rund 7.000 Neugeborenen eine vergleichsweise häufige Seltene Erkrankung. Bei Vorliegen einer Spinalen Atrophie vom Typ 1, woran zwei Drittel der betroffenen Babys leiden, kann die Krankheit binnen zwei Jahren zu 90 Prozent mit dem Tod enden oder die Notwendigkeit ständiger künstlicher Beatmung bedeuten."
Neue Möglichkeiten einer innovativen medikamentösen Behandlung oder seit neuestem eine Gentherapie haben einen Durchbruch erzielt. Der Experte: "In medikamentöser Behandlung sind derzeit in Österreich rund 60 Kinder. Die Gentherapie haben bisher fünf Kinder erhalten. Auch schon nach kurzer Zeit gewinnen wir den Eindruck, dass diese Kinder mit jeder Kontrolle motorisch mehr können, statt - wie ehemals - bereits erlangte motorische Fähigkeiten zunehmend wieder verlieren."
Bei der SMA handelt es sich um einen Defekt oder das Nichtvorhandensein des SMN1-Gens, wodurch das sogenannte Survival Motor Neuron-Protein fehlerhaft oder nicht gebildet wird. Es ermöglicht das Überleben der Motoneuronen im Zentralnervensystem. Diese sind für die Versorgung der Muskelfasern mit nervösen Bewegungsreizen entscheidend. Bei der schweren Verlaufsform entwickeln sich die Babys kaum, alle Muskelfunktionen nehmen ab, bis der Tod, vor allem durch Atemversagen, eintritt.
"Der Hinweis auf ein mögliches Vorliegen der Erkrankung muss deshalb möglichst früh nach der Geburt erfolgen, um nicht mehr reparable Schädigungen zu verhindern", erklärte Susanne Greber-Platzer.
Allerdings steht der Aufnahme dieser Screening-Untersuchung für alle rund 85.000 Neugeborenen pro Jahr das derzeit geltende österreichische Gentechnikgesetz entgegen. "Durch das geltende Gesetz wäre die SMA eine sogenannte genetische 'Typ-3-Erkrankung', bei der eine Untersuchung ausschließlich nach umfassender Aufklärung durch einen Humangenetiker und in speziell dafür zugelassenen Labors erfolgen darf. Doch das Neugeborenen-Screening ist so nicht durchführbar. Das Neugeborenen-Screening basiert auf dem Hinweis für das mögliche Vorliegen einer Erkrankung. Eine Adaptierung im Gentechnikgesetz würde ermöglichen, dass das Österreichische Neugeborenen-Screening - wie bisher bei den Erkrankungen mittels laboranalytischer Methoden - einen genetischen Suchtest für die SMA anwendet ohne die umfassende Aufklärung durchzuführen. Es wäre völlig unverständlich, wenn das nicht möglichst schnell geschieht. Ein Vorschlag liegt im Gesundheitsministerium. Aber bisher hat man dort zugewartet", sagte Greber-Platzer.
Deutschland ist hier schon weiter. "Das Screening auf spinale Muskelatrophie (SMA) wird Bestandteil der Früherkennungsuntersuchungen bei Neugeborenen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (Bundesgremium der Krankenkassen, Krankenhäuser etc.; Anm.) beschloss heute, das erweiterte Neugeborenen-Screening um die Untersuchung auf SMA zu ergänzen und damit eine schnelle Behandlung dieser seltenen neuro-muskulären Erkrankung zu ermöglichen", wurde Ende vergangener Woche mitgeteilt.
Noch ohne Gentherapie - die erste derartige Behandlung erfolgte bei einem Mädchen in Salzburg im Juni dieses Jahres - zeigten sich bei frühzeitiger medikamentöser Behandlung deutliche Erfolge. "Kinder, bei denen die Behandlung bereits präsymptomatisch erfolgt, zeigen einen besseren Verlauf", sagte beispielsweise Simone Weiss, Ärztin an der Kinderabteilung der Wiener Klinik Favoriten, im Jänner 2020 beim Experten-"UpDate Muskelforschung 2020" in Wien.
Bei Therapiekosten von mehreren 100.000 Euro pro Jahr sollten die wirksamen Therapiemöglichkeiten wohl so angewendet werden, dass sie den besten Effekt erzielen können. "Was einmal kaputt ist, ist kaputt", sagte der deutsche Spezialist Wolfgang Müller-Felber (Klinik der Universität München). Er hatte in Deutschland mit Kollegen einen Screening-Pilotversuch bei Neugeborenen auf die Spinale Muskelatrophie (SMA) gestartet, die jetzt zum in Deutschland bundesweiten Screening führte.
"Seit 2018 haben wir 300.000 Neugeborene gescreent", berichtete der Experte. Bei 42 Kindern wurde die Anlage für die SMA entdeckt und in einem Bestätigungstest konfirmiert.
Genau das fordern die österreichischen Experten zum Wohle potenziell betroffener Kinder. "Die Diagnose einer SMA kann man exzellent gut und sehr früh stellen. Das österreichweite Screening ist buchstäblich eine 'Verstandeslösung'", erklärte der Wiener Neuropädiater Günther Bernert.
In jüngster Vergangenheit konnte in Österreich auch erstmals ein System zur Finanzierung der Therapien inklusive der potenziell heilenden Gentherapie (1,945 Millionen Euro) erzielt werden. Das erscheint aber sinnlos, wenn die Diagnosen nicht frühest möglich erfolgen, darin sind sich die Experten Günther Bernert und Susanne Greber-Platzer einig.