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Streitthema Sterbehilfe: "Der Tod ist die größte Kränkung"

Ab Montag berät der VfGH über den assistierten Suizid - und seine Freigabe. Doch was wären die Folgen?

Im oberösterreichischen Schloss Hartheim wurden zwischen 1940 und 1944 rund 30.000 Menschen mit Behinderungen von den Nationalsozialisten ermordet. Brigitte Kepplinger, Soziologin und Historikerin, ist Obfrau des Trägervereins am dortigen Gedenk- und Lernort.

Ist in der Coronapandemie noch mehr spürbar, dass unsere Gesellschaft sich schwertut mit Krankheit und Tod? Kepplinger: Wir verdrängen den Tod und wollen ihn nicht wahrhaben. Wir wollen deshalb auch, dass alles getan wird, den Tod zu verhindern oder zumindest hinauszuschieben. Der Tod ist die größte narzisstische Kränkung. Wir leben, entwickeln uns, sammeln Wissen an, und dann soll alles zu Ende sein. Das ist schwer zu akzeptieren. In vielen Fällen ist das Ende so, dass es ein Kampf gegen eine Krankheit ist - einfach einschlafen, so ist es meistens nicht. Warum ich, warum jetzt, warum so früh? Es wäre leichter mit diesen Fragen gut umzugehen, wenn es eine Kultur des Sterbens gäbe - und nicht eine Verdrängung des Sterbens. Es braucht eine Kultur des Loslassens, damit wir lernen, dass es eine Zeit des Reifens und eine Zeit des Loslassens gibt.

Aber es fehlen Rituale und ein offener Umgang mit dem Tod, seit die gesellschaftlich prägenden Kräfte der Religion nachlassen. Der Neoliberalismus als Geisteshaltung dominiert und damit das Prinzip der absoluten Selbstbestimmung. Es muss hier jedoch bedacht werden, dass es damit keine gesellschaftlich bindenden Werte mehr geben kann, und auch keine "Anleitung" mehr, wie man das Sterben möglichst würdig bewältigt. Am Ende steht nur noch die Auseinandersetzung des Individuums mit dem eigenen Tod. Und hier gibt es kein Geländer, an dem man sich anhalten kann.

Die Befürworter von Sterbehilfe beziehen sich auf die Menschenrechte, das Prinzip der Menschenwürde und das Recht auf Selbstbestimmung. Man kann selbstbestimmt leben, also auch selbstbestimmt sterben. Warum sehen Sie das kritisch? Dieser zugespitzte Individualismus negiert, dass wir soziale Wesen sind. Niemand ist eine Insel. Unser Menschsein realisiert sich im sozialen Miteinander. Die Forderung auf Selbstbestimmung wird erhoben, ohne Rücksicht auf andere. Denn was macht das mit dem anderen, der die Beihilfe zum Sterben leistet? Auch wenn diese Beihilfe legal ist, lässt das den anderen nicht unbeeinflusst zurück. Was macht es mit Ärzten? Es ist schließlich ein großer Widerspruch zur ärztlichen Verpflichtung, Leben zu retten und Suizid zu verhindern. Ich weiß nicht, ob wir das als Gesellschaft aushalten, ob der soziale Zusammenhalt nicht zu sehr infrage gestellt wird. Wie sehr erodiert damit die Solidarität, der Generationenvertrag?

Glauben Sie, dass man beim assistierten Suizid nicht stehen bleibt? Es gibt keinen Automatismus, aber es wird ein Einfallstor geschaffen. Gesellschaftliche Normen werden stets verhandelt. Gesellschaftliche Wertesysteme ändern sich, solche Verschiebungen können passieren, zum Beispiel in Krisensituationen. Das wissen wir aus der Geschichte, aber auch in der gegenwärtigen Coronakrise sind in diesem Kontext sehr problematische Äußerungen gefallen. Es kann alles Mögliche passieren. Ich befürchte langfristig gesehen eine zunehmende Entsolidarisierung mit den Alten, aber auch mit Menschen, die prinzipiell nicht arbeitsfähig sind.

Kritiker meinen, es gebe keine Missbräuche, weder in Holland noch in der Schweiz. Solche Regelungen führen nicht zwangsläufig zu Missbrauch. Aber klar ist auch, wo es diese Möglichkeiten gibt, wird die Grenze ausgereizt und verschoben. In den Niederlanden wird sehr wohl eine Grauzone betreten, wenn es um Patienten geht, die nicht einwilligungsfähig sind. Oder wenn man Personen, die einen Sterbewunsch äußern, in ein Sterbezentrum überweist. Einen Sterbewunsch in einer schwierigen gesundheitlichen oder sozialen Situation zu äußern kann nicht gleichgesetzt werden mit dem tatsächlichen Wunsch, sterben zu wollen.

Der Großteil der Kosten für medizinische Betreuung fällt in den letzten Lebensjahren eines Menschen an. Diese Bewertung fließt auch in Ausnahmesituationen wie derzeit ein. In Belgien war es während der ersten Coronawelle so, dass Coronakranke ab einem bestimmten Lebensalter nicht mehr im Spital aufgenommen wurden. Ähnliches ist auch aus Schweden bekannt. Das halte ich für sehr besorgniserregend.

Die Ärztin Nikola Göttling, die an multipler Sklerose erkrankt ist, meint, wenn sie ihre Arme nicht mehr bewegen könne, müsse sie gewickelt und gefüttert werden, das sei für sie entwürdigend. Andere möchten nicht, dass Verwandte ihre Pflege bezahlen müssen und dann vielleicht nicht auf Urlaub fahren können. Was meinen Sie dazu? Es ist dies auch ein Urteil über Menschen, die ein Leben lang in einer solchen Situation sind und Pflege und Betreuung benötigen. Nach dieser Einschätzung wären auch sie in einer entwürdigenden Lage. Wenn man die Menschenwürde an Fähigkeiten knüpft, begibt man sich auf sehr dünnes Eis. Da sind wir sehr nahe beim Punkt "unwertes Leben". Und wenn wir uns nur als Belastung für andere empfinden, vertrauen wir dem sozialen Zusammenhalt nicht mehr. Wenn ich nicht will, dass jemand anderer für mich auf etwas verzichtet, ist das im Grunde der Ausdruck einer tiefen Unsicherheit. Dann will ich nicht mehr nur der Familie nicht zur Last fallen, sondern auch nicht der Allgemeinheit. Ich kann ja nichts mehr leisten, ich bin ja nur eine Last, also ist es besser, wenn es mich nicht mehr gibt. Eine solche Einstellung hängt damit zusammen, wie die gesellschaftliche Bewertung von Alter, Krankheit und Behinderung ist. In diesem Kontext ist assistierter Suizid ein einfaches Angebot für komplexe Probleme.

Haben wir in Österreich aufgrund unserer nationalsozialistischen Vergangenheit eine besondere Verantwortung, mit diesem Thema sehr vorsichtig umzugehen? Ich denke doch. Die Massentötungen hier in Schloss Hartheim waren eine Brachialaktion der Nationalsozialisten. Es sollte das "unwerte Leben" mit einem Schlag vernichtet werden. Dann, und jetzt wird es interessant, wollte man ein Gesetz für Sterbehilfe schaffen. Es hat interne Diskussionen darüber gegeben, um dieses Gesetz nach dem gewonnenen Krieg zu veröffentlichen, vor allem die Tötung auf Verlangen wäre die erste Stufe gewesen und dann die Beseitigung von Menschen, die den Wunsch nicht geäußert hatten, aber in deren Fall ein Gremium von Fachleuten entscheiden sollte, dass ihr Leben nicht lebenswert ist. Das wäre eine Legalisierung der Sterbehilfe durch die Nazis gewesen.