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Waren die Menschen vor 100 Jahren gesünder als heute?

Wer früher die Geburt und die ersten Jahre überlebte, hatte gute Chancen, ähnlich alt zu werden wie 2019. Den großen Unterschied macht heute aber die moderne Medizin.

Wer arbeiten konnte, war auch fit.
Wer arbeiten konnte, war auch fit.

Die Weltgesundheitsorganisation legt die Latte für Bewegung und Sport immer tiefer. Der Grund dafür ist ernüchternd: Die durchschnittliche Fitness der Menschen wird immer schlechter. Josef Niebauer, Chef des Instituts für Sportmedizin am Uniklinikum Salzburg, betont: "Die meisten Menschen profitieren gesundheitlich bereits, wenn sie drei bis sieben Mal pro Woche 20 Minuten zügig gehen oder radeln. Weil sie konditionell so schlecht sind, wirkt sich bereits eine so geringe körperliche Belastung messbar positiv aus."

Der Salzburger Fitnessexperte Michael Mayrhofer stellte zu diesem Befund in einem Vortragsabend in der Hypo Salzburg folgende Hypothese auf: "Wir leben heute ungesünder als vor 100 Jahren, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung stark gestiegen ist." Niebauer ergänzt: "Wer vor 100 Jahren am Leben war, der war gesund, sonst wäre er bereits tot gewesen. Es gab wenige Menschen zwischen Gesundheit und Tod."

Was der Fitnessexperte und der Sportmediziner damit zum Ausdruck bringen wollen: Wer früher alt wurde, war in der Regel fit. Heute werden wir hingegen vor allem dank der Fortschritte in der Medizin älter, sind aber zu einem Großteil im letzten Lebensdrittel krank.

Kindern, die heute auf die Welt kommen, wird bereits eine Lebenserwartung um die 100 Jahre vorhergesagt. Vor 100 Jahren wurden die Menschen im Durchschnitt nicht viel älter als 50 Jahre. Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt, dass früher bis zu 50 Prozent der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben. Die größten Fortschritte im Kampf gegen die Kindersterblichkeit wurden durch Impfungen, verbesserte hygienische Bedingungen und bessere Wohnungen sowie Ernährung erreicht.

Niebauer verweist in diesem Zusammenhang auf Zahlen aus den USA, die die eingangs aufgestellte Hypothese untermauern. 1910 waren demnach 11,4 Prozent der Bevölkerung älter als 65, heute sind es mit 13,7 Prozent nicht sehr viel mehr. Das heißt, wenn man früher die Geburt und die ersten Lebensjahre überlebte, hatte man gute Chancen, fast genauso alt wie heute zu werden.

Und ein weiterer Punkt war, wie Mayrhofer erklärt, im Vergleich zu heute entscheidend: "Wer früher im Alter krank war, starb meist noch im selben Jahr. Heute sind viele Menschen im letzten Lebensdrittel oft 20 bis 25 Jahre lang krank, weil die Medizin sie am Leben hält." Ein klassisches Beispiel ist für Niebauer Insulin, das erst in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts entdeckt wurde. "Die Zuckerkrankheit bringt uns heute nicht mehr um." Analysen des International Longevity Centre in London zeigen, dass in der westlichen Welt weniger als ein Drittel der Menschen ein Alter von 65 Jahren in einem gesunden Zustand erreichen. Übergewicht, Diabetes und damit verbunden viele Herz-Kreislauf-Erkrankungen beeinträchtigen die Lebensqualität heute massiv.

Eine Hauptursache dafür liegt im Bewegungsmangel und am fehlenden Bewusstsein, wie wichtig körperliche Aktivitäten für die Gesundheit sind. Mayrhofer legt entsprechende Umfrageergebnisse vor: Demnach machen 1,5 Prozent der Österreicher Leistungssport. Dazu zählt man sich schon, wenn man ein Mal einen Halbmarathon läuft. 22,5 Prozent der Bevölkerung sehen sich als Freizeitsportler. Gemeint ist damit ein Mal pro Woche eine Stunde Sport. Weitere 22,5 Prozent fühlen sich als Sportler, weil sie im Winter auf Skiurlaub fahren oder hin und wieder einen Wellnessurlaub machen. Knapp 55 Prozent der Österreicher treiben überhaupt keinen Sport. Hauptgrund: "Keine Zeit."

Sportmediziner Niebauer sieht aufgrund solcher Befunde neue Trends wie die E-Bikes sehr kritisch: "Mit dem E-Bike zu fahren, ist kaum gesünder als auf dem Moped zu sitzen. Die Masse nimmt das E-Bike als Hängematte. Wer nicht schwitzt, treibt nicht Sport." Und auch Mayrhofer regt zum Nachdenken an: "Wir reden heute viel über artgerechte Tierhaltung und setzen uns massiv dafür ein. Wissen wir aber auch, was artgerecht für uns selbst ist?"