Wenn sich aber Diskriminierungskategorien wie etwa Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion, Herkunft überschneiden, ist es noch schwieriger, vielfältige soziale Kontakte zu knüpfen. Eine Studie des Complexity Science Hub und der TU Graz, die in „Science Advances“ veröffentlicht wurde, zeigt, dass Benachteiligungen sich gegenseitig verstärken können.
Soziale Kontakte sind eine wertvolle Ressource, weil sie unterstützend wirken und auch Türen zu neuen Möglichkeiten öffnen können. Aber die Netzwerke entstehen nicht zufällig: Faktoren wie Geschlecht, Herkunft und sozioökonomische Situation beeinflussen stark, mit wem wir uns umgeben. Der eigene soziale Status beeinflusst beispielsweise entscheidend, wie stark man auf Menschen reagiert, die auf der gleichen oder einer anderen Position in der sozialen Hierarchie angesiedelt sind. Das kann Ungleichheiten durch Gruppenbildung verstärken und die Spaltung der Gesellschaft verschärfen. Etwa wenn sich Menschen mit vielen einflussreichen Kontakten vernetzen und damit mehr Zugang zu Informationen über sich bietende Chancen haben, bilden sich durch solche Netzwerke Barrieren statt Brücken.
Unsichtbarkeit von Minderheiten
„Wenn sich Mehrheitsgruppen bevorzugt untereinander vernetzen, entsteht eine strukturelle Unsichtbarkeit für Minderheiten“, formulierte es Samuel Martin-Gutierrez, der die Studie während seiner Zeit am Complexity Science Hub (CSH) durchgeführt hat. Gemeinsam mit Fariba Karimi, Leiterin der Forschungsgruppe Algorithmic Fairness am CSH und Professorin an der TU Graz, und Mauritz N. Cartier van Dissel versucht er zu verstehen, wie sich Ungleichheiten aufgrund verschiedener Identitätsmerkmale – etwa Geschlecht und Herkunft – auf das soziale Kapital der benachteiligten Personen auswirken.
„Das Neue an unserer Studie ist, dass wir zeigen, wie sich mehrere Merkmale gleichzeitig auf soziale Netzwerke auswirken“, erklärte Martin-Gutierrez. Abhängig von Gruppengröße, Verbindungspräferenzen und Korrelationen zwischen den Merkmalen würden ganz neue, komplexe Muster von Vor- und Nachteilen entstehen, wie die Forschenden herausgefunden haben. Um diese intersektionalen Ungleichheiten messen zu können, entwickelten sie ein Netzwerkmodell, das sie mit realen Schuldaten von über 40.000 US-amerikanischen Schülerinnen und Schülern aus den Jahren 1994/95 testeten. Die Jugendlichen gaben an, wen sie als ihre Freunde betrachteten, weiters wurden Informationen über Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Schulstufe an der Highschool ausgewertet.
Neues Netzwerkmodell entwickelt
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Nachteile bei sozialen Beziehungen oft auf unerwartete Weise auftreten, wenn mehrere Identitätsmerkmale zusammenwirken“, hob Karimi hervor. Mädchen haben im Durchschnitt mehr soziale Verbindungen als Burschen. Davon waren jedoch schwarze Mädchen ausgenommen, die weniger Freundschaften hatten als ihre weißen Geschlechtsgenossen. Bei schwarzen Mädchen überlagert demnach der strukturelle Nachteil, schwarz und weiblich zu sein, den Vorteil, dass Mädchen insgesamt häufiger als Freundinnen nominiert wurden als Buben, wie die Forschenden per Aussendung festhielten.
Komplexer analytischer Blick
Weiße Schülerinnen hatten die meisten sozialen Kontakte - begünstigt durch ihre ethnische Mehrheit und die allgemeine Bevorzugung von Mädchen. Weiße Burschen sind ebenfalls aufgrund der ethnischen Mehrheitszugehörigkeit beliebter als schwarze Buben, jedoch sind schwarze Schüler in bestimmten Schulstufen überraschend gut vernetzt. Dieses Phänomen beschrieb Karimi als emergente Intersektionalität, wobei unerwartete Vorteile durch komplexe Zusammenspiele von Gruppenpräferenzen, Größen und Kontexten entstehen. Weil bisher nur einzelne Merkmale untersucht wurden, seien solche Effekte bisher in vielen Studien verborgen geblieben. Die Ergebnisse würden deutlich machen, „wie wichtig es ist, Menschen in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten“, wie Karimi betonte.
Die Studie war Teil des vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierten Projekts NetFair. Die darin entwickelte neue Methode könnte helfen, Bildungseinrichtungen, soziale Plattformen oder politische Programme so zu gestalten, dass strukturelle Benachteiligungen früh erkannt und ausgeglichen werden können, betonen die Komplexitätsforschenden aus Wien und Graz. Sie haben bereits eine interaktive Visualisierung erstellt (https://vis.csh.ac.at/planets-of-disparity-two/), die anhand von Planeten, auf denen Hunde und Katzen wohnen, zeigt, was soziale Fairness bedeutet – und wie sie beeinflusst werden kann. Unterstützt wurde diese Studie zudem von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG.