Die Meinungsforscher können kaum abschätzen, wie sich das Zerbrechen der türkis-blauen Koalition und die Neuwahl-Ankündigung von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) auf die EU-Wahl kommenden Sonntag auswirken. Die Ausgangslage hat sich massiv verändert, die bisher durchgeführten tausenden Umfrage-Interview "können wir wegwerfen". Der nächste Wahlsonntag werde "der Ritt über den Bodensee", sagt Peter Hajek.
Die Meinungsforscher müssten "bei Null beginnen", alle Interviews der letzten Wochen und Monate seien jetzt Makulatur, stellte Hajek (Public Opinion Strategies) im Gespräch mit der APA fest. Dabei hätten die EU-Wahlen jetzt neue Bedeutung - seien sie doch "die Testwahl für die Nationalratswahl". Aber die Zeit reiche nicht mehr wirklich für seriöse Umfragen - müsse man doch auch zwei, drei Tage warten, "bis alles gesickert ist".
Wie sich der Regierungs-Crash auf die EU- und in Folge auf die Nationalratswahl auswirken werden, könne man derzeit nicht sagen, "das kann in alle Richtungen gehen", stellte Hajek fest. Zwei große Fragen gebe es: Welche Wählergruppen werden durch die Entwicklungen mobilisiert und welche demobilisiert? "Nach dem Lehrbuch" müssten Oppositionswähler mobilisiert werden - und FPÖ-Wähler demobilisiert. Aber das sei, wie bei der ÖVP auch, "ganz schwer einzuschätzen"- da könnten auch Wähler daheim bleiben, die immer schon "Bauchweh" hatten mit Türkis-Blau. Und die zweite Frage sei, welche Partei möglicherweise abwandernden FPÖ-Wählern ein Angebot machen kann. Prinzipiell sei aber "die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass große Teile der FPÖ-Wähler Nichtwähler werden".
Ganz sicher werde die EU-Wahl "ziemlich überschattet" von den aktuellen Ereignissen - handle es sich hier doch "um eine wirkliche politische Bombe", meint OGM-Chef Wolfgang Bachmayer. Die Wahlbeteiligung könnte theoretisch sogar steigen, weil es die erste Wahl "nach diesem Skandal" ist - aber ebenso gut auch sinken, weil die Wähler frustriert sind. "Jedenfalls sind alle vorliegenden Umfragen unbrauchbar."
Bachmayer geht aber davon aus, dass die ÖVP jetzt "kurzfristig betrachtet" deutliche Chancen auf ein besseres Abschneiden - auch schon bei der EU-Wahl - hat. Bei der FPÖ sei die Ausgangslage auch für die EU-Wahl wohl schlechter geworden - seien ihre Wähler doch ohnehin bekannt EU-Wahl-faul. Dass eine "Jetzt erst recht"-Stimmung - wie sie die FPÖ mit Slogans zu schüren versucht - entsteht, sei eher zu bezweifeln.
"Vieles ist im Fluss, man kann nicht abschätzen wohin", stellt auch der Politikberater Thomas Hofer fest. Bei der FPÖ sei nach dem Ibiza-Video damit zu rechnen, dass schon bei der EU-Wahl ein Teil der Wähler abwandert oder zu Hause bleibt. Ob die ÖVP davon profitiert, sei fraglich - vielleicht komme es auch dazu, "dass die FPÖ vielleicht verliert, aber die ÖVP nicht alle diese Wähler abholen kann - und viele von ihnen in den Wartesaal, also ins Nichtwählerlager, gehen"
Wahlkarten für die EU-Wahl gibt es noch bis Mittwoch. Wer über die Vergabe der 18 EU-Mandate Österreichs mitentscheiden will, aber am 26. Mai nicht "sein" Wahllokal aufsuchen kann, braucht eine Wahlkarte. Diese kann noch bis Mittwoch schriftlich beantragt werden, wenn man sie sich per Post zuschicken lässt. Kann man sie selbst am Gemeindeamt bzw. Magistratischen Bezirksamt abholen oder einen Bevollmächtigen schicken, bekommt man sie noch bis Freitag 12 Uhr.
Hat man eine Wahlkarte, kann man damit klassisch "briefwählen": Sie also ausfüllen und in den Postkasten werfen. Dies muss bis spätestens Samstag 9 Uhr geschehen, denn kurz danach leert die Post ausnahmsweise österreichweit die Briefkästen und bringt die Wahlkarten zu den zuständigen Bezirkswahlbehörden. Dorthin kann man sie auch selbst schon vor der Wahl hinbringen oder von einem "Boten" hinbringen lassen. Jedenfalls muss die Stimme - auch jene aus dem Ausland - spätestens am Sonntag, 26. Mai, 17.00 Uhr bei der zuständigen Bezirkswahlbehörde oder in einem österreichischen Wahllokal abgekommen sein. Geht man hingegen mit der noch nicht ausgefüllten Wahlkarte in ein "fremdes" Wahllokal, wird sie dort gegen einen "normalen" Stimmzettel ausgetauscht und kommt mit den Stimmen der anderen Wähler in die Urne.
6,4 Millionen Staatsbürger und hier lebende EU-Mitbürger sind am 26. Mai zur Kür der 18 EU-Parlamentarier Österreichs aufgerufen. Dafür haben sieben Parteien Kandidaten ins Rennen geschickt: ÖVP, SPÖ, FPÖ, Grüne, NEOS, EUROPA Jetzt und die KPÖ. Seit 2014 bestand die EU-Riege aus je fünf ÖVP- und SPÖ-, vier FPÖ-Mandataren, drei Grünen und einer NEOS-Vertreterin.
Diese fünf Parteien sahen die Meinungsforscher bisher auch fix im nächsten EU-Parlament - und die seit September 2018 stabilen Umfragen ließen einen ähnlichen Wahlausgang wie 2014 erwarten: Die ÖVP weiterhin (wie seit 2009) Erste, dahinter die SPÖ, die FPÖ Dritte, Grüne und NEOS im Duell um Platz 4 - bei Zugewinnen für ÖVP (2014: 26,98 Prozent), SPÖ (24,09) und FPÖ (19,72), vielleicht auch die NEOS (8,14) und Einbußen für die Grünen (14,52). EUROPA Jetzt und KPÖ lagen immer weit unter dem für ein Mandat nötigen Stimmenanteil von mehr als 4,5 Prozent.
Wie sich das durch das Ibiza-Video ausgelöste innenpolitische Erdbeben auf die Europa-Wahl auswirkt, können die Meinungsforscher kaum abschätzen. Möglicherweise schreckt es viele Wahlberechtigte - vor allem aus dem Lager der FPÖ, vielleicht auch der ÖVP - ab. Dann wird die Beteiligung noch geringer. Denn bei EU-Wahlen ist die Mobilisierung ohnehin das größte Problem - speziell jene der EU-skeptischen FPÖ-Wähler. Generell ist die Beteiligung die schwächste aller größeren Urnengänge in Österreich: Seit 1999 nutzt nicht einmal mehr die Hälfte das Wahlrecht; 2014 waren es 45,39 Prozent.
Ob FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky es schafft, mit dem - schnell auf Plakate und Online-Werbung aufgebrachten - "Jetzt erst recht"-Slogan den offenbar befürchteten Schaden abzuwehren, ist fraglich. Die ÖVP - mit ihrem Spitzenkandidaten-Duo Othmar Karas und Karoline Edtstadler - kann wohl größerer Hoffnung sein, keinen Schaden zu nehmen. Zumal sich Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zuletzt schon verstärkt um EU-skeptische Wähler bemüht hat - indem er sich persönlich mit viel Kritik an Brüssler "Bevormundung" und der Forderung nach Reform in den Wahlkampf eingebracht hat.
Für die Opposition sollte sich die Situation durch den Regierungs-Crash verbessert haben, ihre Sympathisanten haben jetzt vielleicht eine größere Motivation, zur Wahl zu gehen. Und die Oppositions-Kandidaten haben sich schon im Wahlkampf recht klar positioniert: SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder setzte auf einen prononciert linken Kurs mit Warnungen vor Rechtsruck und Zerstörung Europas sowie Forderungen nach Steuergerechtigkeit, europaweitem Mindestlohn und Regeln gegen Wohnbau-Spekulanten.
Claudia Gamon von den NEOS fiel nicht nur als weitaus jüngste und weibliche Listenerste auf, sondern auch mit einem ausgeprägt pro-europäischen Kurs. Sie predigte unermüdlich ihre Vision der "Vereinigten Staaten von Europa", mit EU-Staatsbürgerschaft und EU-Pass und letztlich auch gemeinsamer Armee.
Grünen-Chef und -Spitzenkandidat Werner Kogler konzentrierte sich in dieser Schicksalswahl nach dem Nationalratswahl-Debakel 2017 auf Umwelt- und Klimaschutz und traf damit wohl ganz gut den Nerv der besser gebildeten Jungwähler, die sich etwa bei "FridayForFuture" formieren. Johannes Voggenhuber mit seiner von der Liste Jetzt unterstützten Initiative EUROPA engagierte sich gegen den Rechtsruck der EU.
Wie die jetzt doch spannende Wahl ausgeht, erfahren die Österreicher heuer erst spät. Die Bundeswahlbehörde veröffentlicht alle Ergebnisse erst um 23 Uhr, wenn in Italien die letzten Wahllokale zusperren - und nicht bereits ausgezählte Gemeinden, Bezirke und Bundesländer schon ab dem heimischen Wahlschluss 17 Uhr. Die Briefwahl wird am Montag ausgezählt, das Vorzugsstimmen-Ergebnis wird die Bundeswahlbehörde Dienstag oder Mittwoch bekannt geben. Besonders interessant ist es für die ÖVP - vergibt sie doch heuer ihre Mandate strikt nach der Zahl der Vorzugsstimmen.