1. Dass wir ohne ihn auskommen könnten, war lang eine leise, summende Hoffnung. Kriege und Gewaltkonflikte, so hieß es, seien im 21. Jahrhundert allenfalls Restbestände, Zuckungen einer überwundenen Logik. Auf dem "Raumschiff Erde" ginge es sinnvoller, friedlicher, gemeinschaftlicher zu. Weil wir in einer enger werdenden Welt zur Kooperation verdammt sind. Oder weil Technologien wie das Internet uns miteinander vernetzen und verbinden.
Auch ich habe das geglaubt.
Doch plötzlich ist da eine Realität, vor der wir uns die Augen reiben, weil sie nicht mehr auf den Flachbildschirm zu passen scheint. Menschen werden enthauptet wie im finstersten Mittelalter, was gefilmt, gepostet, millionenfach betrachtet und "gelikt" wird. Menschen liegen sterbend auf Afrikas Straßen, und keiner kann helfen.
Flugzeuge fallen vom Himmel, in denen Kinder sitzen wie Evie, Mo und Maslin, deren Leichen jetzt, Monate nach dem Abschuss von MH17 über der Ukraine, zu ihren australischen Eltern zurückgebracht wurden. Die schrieben einen Brief an die Weltgemeinschaft, den man nicht lesen kann, ohne zu verzweifeln.
Willkommen im neuen 21. Jahrhundert. Dem nächsten Jahrhundert des Schreckens?
2. Wovon hier die Rede ist, lässt sich nur schwer auf den Punkt bringen. Der epidemische Wahn raubt einem buchstäblich die Luft. Bei westlichen Politikern konnte man diesen Effekt leibhaftig studieren. Wenn der deutsche Außenminister Walter Steinmeier in Sachen Ukraine vor die Kameras trat, schien ihm die Stimme zu versagen. Oder Barack Obamas hartes Kinn, seine eckig-leblose Körperhaltung, wenn er auf Geschehnisse im Irak und Syrien reagieren musste. Oder wie Angela Merkel von Treffen mit Putin beredt NICHTS erzählte.
Putins Gesicht ist nur das eine. In ihm spiegelt sich der Wahn als Besessenheit, die nach der nächsten Erregung sucht. Der eigentliche Abgrund ist das russische Fernsehen. Wie dort in rasender Geschwindigkeit eine Welt paranoider Totalität konstruiert wird, hält man im Kopf nicht aus. Ein ostukrainischer Junge soll von ukrainischen Truppen gekreuzigt worden sein. Ein Populist fordert zum nuklearen Erstschlag auf. Ein Kinderchor dankt Putin für seine Friedfertigkeit. Und das alles in blitzenden 3D-Animationen, mit überschminkten Sprecherinnen. "Worte sind die neuen Waffen, Satelliten die neue Artillerie", so der Bösewicht im Bond-Film "Der Morgen stirbt nie ".
Nach der neuen russischen Doktrin sollen die Regenbogenrevolutionen verantwortlich sein für alle Krisen der Welt. Der Regenbogen: Das ist unsere Geschichte, die Geschichte der vielen, kleinen Emanzipationen, Öffnungen, Befreiungen der Moderne. Gemeint ist eine Gesellschaft, in der Eigensinn zählt, Reflexivität, Toleranz und Sensibilität, in der auch das Scheitern, das Fremde, das andere, zum Spiel gehört.
Der epidemische Wahn zeichnet sich dadurch aus, dass er all dies radikal negiert.
3. Um den Wahn zu verstehen, reichen Erklärungen der Talkshow-Auguren ("Neue Weltordnung" - "Skandalöses Versagen des Westens.") nicht aus. Wir brauchen neue Antworten auf die zweite Kant'sche Frage: Was ist der Mensch? Antworten der Kognitionspsychologie, der Evolutionspsychologie, der Neurowissenschaften.
99 Prozent aller humaner Lebenszeit lebten unsere Vorfahren in Jäger- und Sammlergemeinschaften. In dieser Welt war das Leben kurz, brutal, prekär. Der Ethnologe Jared Diamond sagte jüngst einem Interviewpartner: "Sie sind in mein Privathaus gekommen und wir haben uns nicht den Kopf abgeschlagen, sondern uns die Hand gegeben. Wenn man in einer Stammesgesellschaft einen Fremden trifft, tötet man ihn oder man läuft weg . . . Erst seit Kurzem geht der Weg Richtung Händeschütteln."
Zwei besondere Fähigkeiten führten dazu, dass unsere Spezies ihr klobiges Primatenhaupt aus dem Mainstream der Evolution herausheben konnte: Kooperation und Antizipation. Menschen können gemeinsame Wahrnehmungswelten schaffen - und Ziele strategisch verfolgen.
Doch die soziale Plastizität der menschlichen Vorstellungskraft hat einen Preis. Die Kognitionspsychologen Kahnemann und Twersky sprechen von einer "Repräsentationsverzerrung", die Menschen dazu bringt, ihre inneren Energien an Symbole zu binden, die mögliche Gefahren signalisieren.
In existenziellen Angstsituationen neigen Menschen dazu, ein heroisches Wir zu bilden. Dieser Mechanismus ermöglichte unseren Vorfahren, in der Lebensbedrohung enorme Überlebensenergien zu entwickeln. Der Zustand des rauschhaften heroischen Wir ist eine Art Notreaktion auf das Gefühl, nicht überleben zu können. In diesem Zustand steigt die gesellschaftliche Koordinationsfähigkeit an, und die Todesangst kann überwunden werden.
1,8 Millionen Menschen sind im Gazastreifen eingesperrt. Die islamistische Hamas etablierte hier eine heroische Opferkultur. Das Kind, das neben dem Raketenabschussrohr spielt und von einer israelischen Granate getötet wird, wird im euphorischen Massenbegräbnis sofort zum Teil rauschhafter Propaganda. Trauer schürt den Hass und die Identifikation. Und die Fortpflanzungsrate. Frauen im Gazastreifen bekommen fünf bis sechs Kinder -- ein Wert, der nur noch in Einöden Afrikas erreicht wird.
Menschen sind soziale Wesen. Aber selektiv soziale Wesen. In manchen Situationen kann die Empathie für die UNSEREN nur durch den Hass auf die ANDEREN stabilisiert werden. Oxytocin, das wundersame Molekül der menschlichen Empathie, erweist sich als Doppeldroge: Studien zeigten, dass bei hohem Oxytocin-Level die Sympathie für die Nächsten zunimmt - aber auch die Aggression gegen Fremde. Es schockiert, ist im wahrsten Sinn verrückt: Der Wahn ist eine tödliche Form der Liebe.
4. Nun wird nicht aus jedem Hooligan-Hass ein Weltbrand, aus jeder Rebellion ein Killerstaat. Es braucht drei "Zündungen", um Angst zu Wahn zu steigern:
Erstens: das Trauma. Es beginnt mit einer tiefen Verletzung, einem existenziellen Kontrollverlust. Kein Verbrecher, der nicht in der Kindheit missbraucht, ignoriert, gedemütigt worden wäre. Keine Kriegsregion ohne kollektive Erinnerungen des Schreckens über Generationen. Neueste Forschungszweige wie die Epigenetik zeigen, dass es solche Traumata sogar im Erbgut über Generationen weitergegeben werden können.
Russland ist ein riesiges Land, das in seiner Geschichte immer wieder mörderischen Angriffen ausgesetzt war, Abermillionen von Hungertote erlebte, Despotien der schrecklichsten Art. Nie konnte sich das heilende Amalgam gesellschaftlichen Vertrauens und ziviler Kooperation bilden. 80 Prozent der Russen leben in bröckelnden Wohnungen alter Industriestädte oder zerstörter Ländlichkeit. Aber wen verantwortlich machen für diese Misere? Das Ausland!
Auch islamistischer Terror lebt von Demütigung - Eroberung, koloniale Zersplitterung, Abu Ghraib, Guantánamo bilden Narrative eines fundamentalen Vernichtungsgefühls. Dazu kommt rebellischer Existentialismus: Bei den mörderischen Jungs, die aus Paris-Ost oder Leeds in den IS-Killerkrieg ziehen, handelt es sich tatsächlich oft um den dritten arbeitslosen Sohn einer kinderreichen Familie: jenen, für den elterliche Aufmerksamkeit und Integrationsfähigkeit der Gesellschaft nicht mehr reichten.
Zweitens: Verschwörungswahn. Für das zerstörte Selbstwertgefühl bedeutet die Vorstellung, Feinde zu haben, eine euphorisierende Aufwertung. Es ist kein Zufall, dass Sexualthemen eine Rolle spielen. Das Denunzieren von "falschen" sexuellen Handlungsweisen verweist auf das anthropologische Erbe des Wahns: Die Angst vor dem Verlust der eigenen Zeugungskraft (als Symbol für die Überlebensfähigkeit der "Unsrigen") kompensiert man in der Betonung der Impotenz des "Gegners". Deshalb sind endemische Gewalt-Kulturen immer homophob. Deshalb sind auf den Flugblättern russischer Separatisten "EU-Bonzen" in rosa Plüschkleidern zu sehen. Deshalb werden Frauen von Boko Haram wie von dem IS geraubt, vergewaltigt, verkauft.
Drittens: das Charisma. Schließlich braucht der kollektive Hass die Figur des Führers. Jene Lichtgestalt, die das grandiose Wir ins Heilige, Unantastbare transzendiert. Putin hat mit Novorussia seine Resonanz in der Masse gefunden. Ohne Osama Bin Laden hätte es den 11. September nicht gegeben. Aber die alte Vision vom Tyrannenmord bleibt auch keine Lösung. Denn die morphischen Felder des Wahns bringen immer neue Köpfe des Schreckens hervor.
5. Und doch gehört zu den Kant'schen Fragen auch die vierte: Was dürfen wir hoffen?
Hören wir auf, uns etwas vorzumachen. Weder war der Wahn jemals vom Horizont der Menschheit verschwunden noch wird er es in Zukunft jemals sein. Wir finden ihn in kleinerer Dosis in jeder Talkshow, in der Eckkneipe, in den Verschwörungs-Geifer-Foren des Internets. Er ist der Preis für die evolutionäre Universalität des Menschen, Stigma des "nicht festgestellten Tiers", wie Nietzsche den Sapiens nannte.
Doch wie lässt sich der kollektive Irrsinn jemals beenden, hat er seine Dopamin- und Endorphinbahnungen einmal etabliert?
Hitler musste so enden, wie er endete: im letzten Bunker. Erst wenn der letzte Islamist sich in mit uns in die Luft gesprengt hat, ist der Spuk zu Ende. Aber welcher ist "der letzte"? Welche Expansion des gloriosen Großrussischen Reichs würde ausreichen, um die Kernenergie dieser angstbasierten Größenfantasie zu kühlen?
Einige Tröstungen bleiben. Auch der Wahn unterliegt den Gesetzen der Entropie. Er braucht immer neue Bühnen, auf denen er sich entfalten kann. Er ist angewiesen auf ständige, radikale Steigerung. Er giert nach narzisstischer Aufmerksamkeit, negativer Zuwendung. Womit er nicht umgehen kann, ist Gelassenheit. Oder Gleichgültigkeit, wie sie sich in unserer medialen Überflutungswelt zunehmend entwickelt.
In der großen Verunsicherung übersehen wir auch komplexe Trends. Die Anzahl der Erdbewohner, die in ihrer Kindheit schweren Traumata ausgesetzt sind, nimmt ab. In 90 Prozent der Welt herrscht Frieden. 30.000 wahnhaften IS-Kämpfern stehen 120 Millionen muslimische Bewohner Indonesiens gegenüber, die ihr Land in Richtung Demokratie und Wohlstand entwickeln.
Die Menschheit altert. Die Frauen gewinnen kulturelle Formungsmacht. Jene "übermännlichten" Gesellschaften, in denen der Wahn besonders blüht, werden seltener.
Ist es illusionär, im IS-Terrorismus den Anfang eines kathartischen Selbstreinigungsprozesses der islamischen Welt zu sehen? Könnte Ebola zu Fortschritt in den betroffenen Kulturen führen (so wie Aids auf paradoxe Weise zu mehr Toleranz führte)? Ist es ausgeschlossen, dass Europa durch einen neuen Totalitarismus an seinem Rand mehr zu sich selbst kommt? Oder Russland zu seinen humanistischen Wurzeln zurückfindet? Am Ende ist der Wahn ein Spiegel, in dem wir uns und die Zukunft erkennen können. Die Kraft, die Böses will, und doch Gutes schafft: Bei diesem Faust'schen Programm sollten wir uns als Deutsche oder Österreicher ein bisschen auskennen.
Matthias Horx gilt als einflussreichster Trendforscher im deutschsprachigen Raum.