Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan spricht von einer "ethnischen Säuberung". Die Analyse der Situation zeige, dass es in den kommenden Tagen in Bergkarabach keine Armenier mehr geben werde. Bis zum Freitag waren nach Angaben der Vereinten Nationen und der armenischen Regierung bereits 89.000 Menschen auf der Flucht nach Armenien. Nach offiziellen, nicht überprüfbaren Angaben lebten zuvor rund 120.000 Karabach-Armenier in der Region.
Auch Stephan Malerius, Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus in der Konrad-Adenauer-Stiftung, geht im SN-Gespräch davon aus, dass 99 Prozent der Armenier aus Bergkarabach flüchten werden. Hassreden im Internet würden dazu aufrufen, die Karabach-Armenier zu töten und die Frauen zu vergewaltigen. Der Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, reiht sich da offensichtlich mit ein, auch wenn von offizieller Seite betont wird, man wolle die Minderheitenrechte der Armenier in Berg-Karabach achten.
Doch darauf vertraut dort niemand mehr - auch aufgrund der belasteten Geschichte. Die Region Berg-Karabach ist seit Jahrzehnten zwischen den verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. In den Neunzigerjahren Jahren konnte sich das auf aserbaidschanischem Gebiet liegende, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte Berg-Karabach mithilfe Jerewans in einem blutigen Bürgerkrieg von Baku loslösen. Dem durch Öl- und Gaseinnahmen militärisch hochgerüsteten Aserbaidschan gelang zunächst 2020 eine Rückeroberung großer Teile Bergkarabachs. Ein von Russland vermittelter Waffenstillstand erwies sich aber als brüchig.
So drangen im Mai 2022 zwischen 600 und 1000 aserbaidschanische Soldaten in international anerkanntes armenisches Territorium ein, im September 2022 bombardierte Aserbaidschan armenische Städte. Allein dabei kamen nach Angaben von Stefan Malerius rund 300 Armenier ums Leben. Armenische Soldaten wurden öffentlich hingerichtet. Angesichts dessen ist es kein Wunder, wenn die Karabach-Armenier den Zusicherungen der aserbaidschanischen Regierung nicht mehr trauten, sagt der Kaukasus-Experte.
Malerius befürchtet sogar, dass es Ilham Alijew nicht dabei belassen könnte, Bergkarabach innerhalb von nur wenigen Tage zur Gänze zurückerobert zu haben. Die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan an der Grenze zum Iran ist nur durch einen schmalen Streifen armenischen Territoriums vom Rest Aserbaidschans getrennt. Regierungschef Alijew hat zuletzt eine verlässliche Verkehrsverbindung mit dieser Exklave, wie nach dem Krieg um Bergkarabach 2020 vereinbart, uminterpretiert auf den Anspruch auf einen regelrechten Landkorridor, den er notfalls mit Gewalt öffnen wolle. Stephan Malerius verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Iran inzwischen nichts mehr gegen einen solchen Korridor habe. Bisher sei das für Teheran immer eine rote Linie gewesen.
Dazu kommt, dass der russische Präsident Wladimir Putin in diesem Dauerkonflikt auf die Seite der Aserbaidschaner gewechselt ist. Offensichtlich wurde das auch, als durch die Militäraktion Aserbaidschans einige Soldaten der rund 2000 Mann umfassenden russischen Friedenstruppe getötet wurden, die auch die Armenier schützen soll. Putin reichte eine schnelle Entschuldigung aus Baku.
Malerius erklärt den Seitenwechsel des russischen Präsidenten vor allem auch damit: Armenien habe klargemacht, dass es sich demokratisch entwickeln, den Rechtsstaat stärken und gute Kontakte nach Brüssel und Berlin haben wolle. Darüber hinaus sei Armenien dem Internationalen Gerichtshof beigetreten. Putin kann daher nicht mehr nach Armenien reisen, will er nicht Gefahr laufen, als Kriegsverbrecher verhaftet zu werden. "Aserbaidschan und die Türkei sind im Verbund für Putin wichtiger geworden als Armenien", betont Malerius. Russland brauche Aserbaidschan außerdem, um Gas und Öl über Umwege in den Westen zu bringen.
Eine bewaffnete UNO-Mission, sofern sie überhaupt gegen die derzeitigen Widerstände Aserbaidschans eine Chance bekommt, könnte in Bergkarabach insofern eine Wende bringen, als dadurch Karabach-Armenier vielleicht wieder zurückkehren. Vorerst sieht Malerius aber eine massive Krise auf Armenien zukommen. Ein Land mit 2,8 Millionen Einwohnern stehe vor der Herausforderung, mit einem Schlag 120.000 Flüchtlinge aufzunehmen.