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Wie kriegsmüde ist der Westen bereits?

Ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine wird der Ruf nach Friedensverhandlungen lauter. Kann das Kalkül des russischen Präsidenten aufgehen, dass die westliche Allianz bröckelt? Im SN-Gespräch analysiert der Militärexperte und Russland-Kenner Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations in Berlin die derzeitige Lage und wagt einen Ausblick. Ab Freitag, 24. Februar, 18 Uhr, hier zu sehen.

Nach einer österreichischen Umfrage von Unique Research sind 65 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher der Meinung, die Ukraine sollte Friedensverhandlungen beginnen, auch wenn sie Gebiete abtreten muss. Ist Kriegsmüdigkeit spürbar und sinkt der Rückhalt der Regierungen in der Bevölkerung für die massive militärische Hilfe? Der Glaube, durch Gebietsabtretungen zu einem Frieden zu kommen, ist eine Illusion. Russland verlangt ja Gebietsabtretungen der Ukraine als Vorbedingung für Gespräche, Russland würde nicht einmal einen Waffenstillstand als Gegenleistung erbringen. Es wird suggeriert durch gewisse Leute, dass Gebietsabtretungen eine Option wären, aber sie bietet sich nicht wirklich.

Verstehen Sie die Sorgen der Bevölkerung, der Konflikt könnte weiter eskalieren und den Westen immer weiter in den Krieg mit hineinziehen? Ja natürlich, diese Sorge ist natürlich immer da. Aber das Problem ist, dass sich rund um diese Sorge immer auch viel Desinformation gruppiert - nicht nur was die Rolle von Staaten betrifft, die Waffen liefern. Es wird auch immer wieder gefordert, man müsse der Diplomatie eine Chance geben. Es ist nicht so, dass das niemand probieren würde. Es gibt viel Hintergrunddiplomatie, mit der man vorfühlt, wo Russland steht und worauf man sich einigen könnte. Die Entscheidung in der Frage der Kampfpanzer hat viel damit zu tun. Putin hat sich nicht einen Millimeter in seiner Position bewegt, die Ukraine ganz zu unterwerfen. Daher schwenkte man um und ertüchtigt nun die Ukraine, größere Gegenangriffe zu fahren und weitere Gebiete zu befreien.

Setzt Putin auf Zeit und Kriegsmüdigkeit im Westen, auch in der Hoffnung, dass die westliche Solidarität bröckelt, je länger der Krieg dauert? Das ist zweifelsohne die russische Taktik. Er hat zuerst das Energie-Embargo gegen Europa verhängt und versucht, die Energiepreise so weit wie möglich zu befeuern. Dann hat er die eigene Wirtschaft voll auf Rüstungsproduktion umgestellt, in der Hoffnung, selbst über einen langen Zeitraum eigene Verluste besser ergänzen zu können, als die Ukraine das durch westlichen Nachschub bewerkstelligen kann. Deshalb hält Putin weiter an seinen ursprünglichen Kriegszielen fest.

Russland-Experte Gustav Gressel sagt, der russische Präsident Putin setze auf einen langen Atem im Krieg gegen die Ukraine.
Russland-Experte Gustav Gressel sagt, der russische Präsident Putin setze auf einen langen Atem im Krieg gegen die Ukraine.

Kaum war die Lieferung von Kampfpanzern beschlossen, forderte die Ukraine Kampfflugzeuge. Besteht die Gefahr, den Bogen zu überspannen? Nein, die Waffenlieferungen orientieren sich am militärischen Bedarf der Ukraine. Kampfflugzeuge waren von Tag eins an sehr begehrt, weil sie von Tag eins stark im Einsatz und knapp sind. Es wurden auch schon Kampfjets geliefert - aus Bulgarien und Polen. Früher oder später in diesem Jahr wird dieser Schritt kommen.

Die Bevölkerung fragt sich natürlich, was nach Kampfpanzern und Kampfflugzeugen kommt. Schicken wir dann Soldaten in die Ukraine? Truppen wird es nicht geben, das wissen die Ukrainer. Die Sowjetunion hat zum Beispiel in Korea, in Vietnam, in allen Nahostkriegen Kampfflugzeuge an Kriegsparteien ausgeliefert und wurde nicht selbst zur Kriegspartei. Man hat historische Amnesie, wenn man meint, das habe es noch nie gegeben. Das war im Verlauf der Geschichte schon oft so.

In der Sprachregelung der westlichen Politiker heißt es derzeit, Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Ist es tatsächlich mit Waffenlieferungen getan, wenn man das zu Ende denkt? Natürlich, viele Maßnahmen, die im Vorjahr ergriffen wurden, werden erst heuer zum Tragen kommen, beispielsweise die Steigerung der Produktion von Munition. Für Europa ist auch klar: Sollte Russland gewinnen und auf dem Boden der Ukraine den Völkermord vollenden, dann haben wir nicht nur ein Russland, das sich jetzt schon innenpolitisch radikalisiert, sondern ein Russland mit einer immensen Gewalterfahrung. Ein russischer Sieg in der Ukraine würde den nächsten Krieg weiter westlich in Europa programmieren.

Glauben Sie tatsächlich, dass Russland es wagen würde, Nato-Staaten anzugreifen? Putin braucht den äußeren Feind. Auch wenn er jetzt gesehen hat, dass amerikanische Waffen wirkungsstark sind und schnell zuschlagen, ist die Hoffnung da, dass in einigen Jahren ein Krieg im Pazifik, also ein chinesischer Angriff auf Taiwan, die US-Kräfte so bindet, dass Europa entblößt und schwach ist. In so einem Fall hätten wir ein großes Problem, wenn Russland in der Ukraine siegt.

Was ist für Sie die größte Gefahr, wenn dieser Krieg weiter eskaliert? Russland hat im Herbst diesen Krieg durch die formelle Annexion von Gebieten enorm eskaliert, weil dadurch der Spielraum für Verhandlungen extrem eingeengt wurde. Gefährlich wird es, sollte ein möglicher Zusammenbruch der russischen Front sehr abrupt erfolgen und ein Zurückfluten von Soldaten, die mit der ganzen Kriegsführung in Moskau unzufrieden sind, ein Problem für Putin selbst werden und er seinen Machterhalt gefährdet sieht. Es könnte dann sein, dass Putin zum eigenen Machterhalt eskaliert. Aber von so einem Ereignis sind wir noch weit entfernt.

Rund um den ersten Jahrestag dieses Krieges droht Russland erneut verstärkt mit dem Einsatz von Atomwaffen. Ist das eine reale Gefahr? Zur Zeit nicht. Natürlich gibt es ein nukleares Restrisiko, wenn Atommächte zu einem Krieg schreiten. Was will man mit einem Atomwaffeneinsatz bezwecken? Um einen Krieg mit nuklearen Kampfmitteln zu gewinnen, reicht nicht nur die symbolische Schockwirkung einer Atomwaffe, sondern es braucht mehrere davon. Dann sind aber auch die politischen, wirtschaftlichen Folgekosten da. Das sieht man an der Haltung Chinas, das sieht man an der Haltung von anderen, derzeit sich neutral verhaltenden Staaten, die Russland eigentlich wohlwollend gegenüberstehen. Einen Einsatz von Atomwaffen würden sie nicht dulden. Diese Rechnung kalkuliert Putin schon rational durch.

Entsteht Kriegsmüdigkeit nicht auch dadurch, dass man meint, je stärker sich der Westen in der Ukraine engagiert, umso größer wird die Gefahr, dass Putin Atomwaffen einsetzt? Je stärker sich der Westen in der Ukraine engagiert, umso unwahrscheinlicher wird der Einsatz von Atomwaffen. Aus dem einfachen Grund: Solange Putin sich gewiss ist, dass der Westen die Ukraine nicht als entscheidendes Problem der eigenen Sicherheit ansieht, kann man sie isolieren. Und wenn man sie isolieren kann, kann man sie auch schlagen.

Je größer also das politisches Commitment des Westens für die Ukraine ist, desto geringer ist das nukleare Risiko, weil für Putin diese Option immer risikoreicher wird. Die Schlagzahl der nuklearen Drohungen nahm auch ab, als der Westen intensiver über Kampfpanzer nachdachte.

Marschieren wir zurück in die Zeit vor 1989, als der Eiserne Vorhang fiel und der Kalte Krieg zu Ende ging? Wir stecken schon mitten im Kalten Krieg. Wir hatten gerade in Deutschland und Österreich lange die Illusion, dass alles nicht so tragisch kommt und Handel und Wirtschaft die geopolitischen Interessen stechen. Auf der anderen Seite hat Putin das nur als Käuflichkeit westlicher Eliten angesehen. Wir befinden uns schon länger im Kalten Krieg, nehmen es aber erst jetzt zur Kenntnis.

Gustav Gressel ist in Salzburg geboren und arbeitet unter anderem als Politologe und Militäranalyst bei der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Berlin.

Kameradenhilfe in einem Krieg, der keine Verschnaufpause kennt.
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