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"Es wäre unverantwortlich, Syrern jetzt Rückkehr zu raten"

Die ersten Wahlen für das Parlament in Syrien wecken Hoffnungen. Aber wie weit ist das Land noch entfernt von einer Zukunft in Frieden und Freiheit?

Kinder spielen mit alten Reifen mitten zwischen zerstörten Häusern in der syrischen Stadt Douma.
Kinder spielen mit alten Reifen mitten zwischen zerstörten Häusern in der syrischen Stadt Douma.
<Vorschub2mm_14></Vorschub2mm_14><Schriftwechsel14>Karim Finianos, People of Mercy: Viele Kinder gehen nicht zur Schule.</Schriftwechsel14>
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Am Rande einer Tagung der Hilfsorganisation "Initiative Christlicher Orient" im Bildungszentrum St. Virgil in Salzburg trafen die SN Karim Finianos von der Partnerorganisation "People of Mercy". Finianos, dessen Vater Syrer ist, der 20 Jahre in Syrien aufgewachsen ist und nun in der Schweiz lebt, unterstützt Schulprojekte in der Küstenregion Latakia und ist daher auch immer wieder in Syrien. Er spricht über die nach wie vor angespannte und schwierige Lage im Land, aber auch darüber, was Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht.

Auch wenn die erste Parlamentswahl in Syrien nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad nicht westlichen Standards entspricht: Sehen Sie das als ersten Schritt in Richtung eines demokratischen Rechtsstaats?


Karim Finianos: Nach mehr als 53 Jahren mit einem autoritären Regime wäre es vermessen zu glauben, in kurzer Zeit mit nur einer Wahl ein Land in eine Demokratie verwandeln zu können. Der jetzige Präsident Ahmed al-Schara hat eine Übergangsverfassung erlassen, die eine fünfjährige Übergangsphase festlegt. Auch wenn es ein erster Schritt Richtung Demokratie ist, fehlen noch Regeln für eine funktionierende Demokratie. Es ist eine philosophische Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Können die Wahlen in jenen Regionen, in denen es zuletzt Massaker an Alawiten und Drusen gegeben hat, wie Latakia oder Sweida, überhaupt regulär ablaufen?


In Latakia, wo hauptsächlich die alawitische Minderheit lebt, ist es grundsätzlich machbar. Die Frage ist jedoch, ob diese Bevölkerung an der Wahl teilnimmt und ob dort alle Voraussetzungen für eine reguläre Wahl geschaffen werden können. Können sie aus den Bergen und Dörfern, wo sie leben, zu den Wahlzentren kommen? Werden sie auf dem Weg bedroht? Wird es Anschläge geben? Wenn Al-Schara wirklich legitime und transparente Wahlen will, muss er auch ein sicheres Umfeld dafür schaffen. Die Wahl kann auch nicht in Gebieten im Süden und Norden Syriens stattfinden, die derzeit noch nicht unter Kontrolle des neuen Präsidenten stehen (sowohl die kurdisch dominierten Regionen Hasaka und Rakka als auch die drusisch dominierte Provinz Suweida befinden sich derzeit nicht unter Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus, Anm.).

Wie sicher können Menschen derzeit in Syrien leben, vor allem wenn man einer religiösen Minderheit angehört?


In der Hauptstadt Damaskus gibt es keine großen Sicherheitsprobleme. In der Küstenregion sieht es anders aus. Die Exekutive vor Ort steht nicht immer unter der Kontrolle der Zentralregierung. Diese Gruppen neigen dazu, das Gesetz selbst auszulegen und die alawitische Mehrheit in dieser Region zu bedrohen. Es gibt weiterhin verbreitet Gewalt gegen Alawiten in unterschiedlichster Ausprägung. Ich war im August in Latakia und habe - über mein Netzwerk in Syrien - mehr als 27 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, nur in Latakia und Umgebung. Diese betrafen Waffeneinsatz, Vergewaltigungen, Entführungen und Diebstähle.

Umfragen zeigen, dass die meisten syrischen Flüchtlinge noch nicht an Rückkehr denken. Was empfehlen Sie ihnen?


Angesichts der wirtschaftlichen Lage in Syrien sind derzeit nicht einmal minimale Voraussetzungen für ein anständiges Leben erfüllt. Einer Familie, die alles für eine Ausreise geopfert hat, jetzt zu raten zurückzugehen - das wäre unverantwortlich. Entwickelt sich aber die politische Lage tatsächlich Richtung Demokratie, führt das schnell zu wirtschaftlicher Erholung und neuen Chancen. Derzeit sind aber mehr als 50 Prozent der Infrastruktur zerstört. Es wird noch lange dauern, Mindeststandards wie Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr wiederherzustellen.

Was sind darüber hinaus die größten Probleme?


Es fehlt an ordentlichen Straßen und einer entsprechenden Gesundheitsversorgung. Die letzten Studien, die ich las, besagen: Eine vierköpfige Familie braucht umgerechnet mindestens 400 bis 500 Euro zum Leben. Das Durchschnittsgehalt liegt aber bei 150 bis 200 Euro. Auch wenn beide Eltern arbeiten, reicht das nicht, vor allem wenn man Miete zahlen muss. Eine Wohnung unter 100 oder 150 Dollar findet man kaum. Gute Schulen sind oft privat, da die öffentlichen Schulen überfüllt sind.

Wer hilft derzeit beim Wiederaufbau des Landes?


Der Wiederaufbau verläuft schleppend, das meiste Geld kommt von den Golfstaaten. Von Europa oder den USA kommt bisher kaum Hilfe. Die Bautätigkeit wird vor allem von Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert. Als Vater von drei Kindern denke ich zuerst auch daran, wo die Kinder zur Schule gehen können. Die staatlichen Schulen sind überfüllt - nach den Sommerferien sind die Klassen wieder mit 40 bis 60 Kindern belegt.

Was sind die Gründe dafür?


Im Krieg wurden viele Schulen zerstört, längst nicht alle wurden wiederaufgebaut. Dazu kommt, dass der Bau von Schulen weder das Bevölkerungswachstum noch die Bewegung der Binnenflüchtlinge berücksichtigt. UNICEF oder NGOs wie Caritas Syrien haben inzwischen Schulen errichtet. Aber das reicht nicht für den großen Bedarf. Das zweite Problem: Nach dem Sturz von Assad wurde in den Lehrbüchern nicht nur alles über ihn entfernt, was man in Ordnung finden kann, gleichzeitig hat man aber den Anteil religiöser Inhalte erhöht - zulasten von Naturwissenschaften und Literatur. Viele Familien sehen das kritisch, weil es nicht ihrer Identität oder ihren Vorstellungen für die Kindererziehung entspricht.

Wo helfen Sie mit Ihrer Organisation People of Mercy (PoM) in Zusammenarbeit mit der Initiative Christlicher Orient (ICO)?


Wir arbeiten in der Küstenstadt und Region Latakia vor allem an Schulprojekten: Wie kann man die Lehrer unterstützen, wenn es zu viele Schüler pro Klasse gibt?

Ein großes Problem sind auch Kinder und Jugendliche, die durch den Krieg die Schulen verlassen mussten und nicht zurückgekehrt sind. Millionen Kinder gehen nicht zur Schule.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?


Wir haben zusammen mit ICO ein Bildungsprogramm für 140 jugendliche Mädchen. Davon machen 60 eine berufliche Ausbildung, wie Näherin oder Friseurin. Ziel ist ein Einkommen für die Familie und etwas gegen die Frühverheiratung der Mädchen zu tun, - ein großes Problem in der sunnitischen armen Gemeinschaft. Ein weiteres Projekt betrifft 150 Kinder von 7 bis 13, 14 Jahren, die nie in der Schule waren. Darüber hinaus unterstützen wir 270 Kinder, die zwar bereits in der Schule sind, aber bei einer Schülerzahl von 50 pro Klasse wenig lernen. Um die Eltern zu überzeugen, ihre Kinder in unser Programm zu schicken, helfen wir den Familien mit Schulmaterial, Kleidung, Schuhen, medizinischer Betreuung und psychologischer Hilfe. Rund die Hälfte der Kinder benötigt vorübergehend psychologische Betreuung.

Woher bekommen Sie das Geld dafür?


Wir werden von europäischen NGOs finanziert: Caritas Deutschland ist der größte Partner, aber auch ICO ist wichtig für uns, daneben arbeiten wir mit kleineren Organisationen aus Deutschland und Frankreich zusammen.

Das Hilfswerk "Initiative Christlicher Orient"unterstützt mit der Partnerorganisation People of Mercy eine Reihe von Hilfsprojekten in Syrien.
Kontonummer:
AT42 5400 0000 0045 4546 (Hilfswerk Initiative Christlicher Orient).