Brief der neun Staaten war "nicht optimal"
"So wie das Ganze angefangen hat, war es nicht optimal", beklagte Berset im Gespräch mit der APA in Wien. Der Brief sei öffentlich und nicht an den Europarat gerichtet gewesen. "Es gab auch eine Art von Druck auf den Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)", kritisierte er. Das Schreiben war im Mai auf Initiative der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verfasst und auch von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) unterzeichnet worden. Es hatte zu einer Diskussion über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geführt.
Informelle Gespräche mit Frederiksen und Stocker
Berset sagte, er habe am Rande des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft Anfang Oktober in Kopenhagen mit Frederiksen und auch mit Bundeskanzler Stocker informelle Gespräche geführt. "Ich bin nicht mit leeren Händen dorthin gekommen. Ich sehe, dass Migration ein wichtiges Thema ist, über das viel gesprochen wird." Er habe einen Vorschlag mit vier Punkten unterbreitet, der mit den Mitgliedsstaaten nicht-öffentlich beraten werde und noch nicht im Detail fixiert sei, sagte der Europaratchef. "Ich kann Ihnen sagen, dass vor Ende des Jahres etwas Wichtiges passieren wird."
"In einer Organisation wie dem Europarat oder auch auf einem Kontinent, wo man so viel Wert auf eine unabhängige Justiz legt, ist es keine gute Idee von Anfang an zu sagen, man müsse die Jurisprudenz des Gerichtshofs ändern. Man muss das auf der richtigen Ebene diskutieren, das bedeutet im Ministerkomitee in Straßburg", so Berset. "Die Hürden sind ziemlich hoch. Man sagt in Italien, es gibt Schwierigkeiten mit Migration, man sagt denselben Satz in Dänemark, man sagt dasselbe in den baltischen Staaten - nur, man versteht unterschiedliche Sachen darunter."
75 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention
Berset erinnerte daran, dass der Europarat in der kommenden Woche den 75. Jahrestag der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention feiert. "Diese Konvention ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Es gab Staaten, die sich verpflichtet haben, das zu entwickeln und umzusetzen bis zum Gerichtshof. Wenn es Unmut über eine Situation gibt, muss man diesen auch auf politischer Ebene thematisieren. Wir haben die Instrumentarien dafür. Wir haben die politischen Gremien, wo man das diskutieren kann."
Im APA-Interview schilderte Berset auch, wie der Europarat gegen Gefahren für die Demokratie durch neue Herausforderungen wie Desinformation und KI vorgehen will. "Es gab 1993 einen Gipfel des Europarats in Wien. Gerade auf diesem Gipfel ist das Konzept der demokratischen Sicherheit entwickelt worden. Das war wirklich eine österreichische Erfindung. Jetzt, wo wir diesen Backlash (in der demokratischen Entwicklung) sehen, ist dieses Konzept wieder hoch auf der Agenda", sagte er.
Demokratie-Risiken durch massive Militarisierung
Der frühere Schweizer Bundespräsident warnt in diesem Zusammenhang insbesondere vor der dynamischen Entwicklung im Militärbereich. "Das ist sehr legitim, weil wir sehen, dass die transatlantische Beziehung ein bisschen erschüttert ist. Auch wegen Russland, das ein ziemlich komplizierter Nachbar und ziemlich bedrohlich ist. Aber man muss sich wirklich die Frage stellen, was für eine Sicherheit wir erreichen werden in 20 Jahren, mit einer hohen Militärpolitik und parallel dazu einem starken demokratischen Backlash."
Eine neue Konvention gegen Desinformation?
Den Einfluss von Social Media, Deepfakes und Desinformation will Berset im Rahmen des "Neuen Demokratischen Paktes für Europa" behandeln. "Wir müssen da nicht nur mit Bildung und Weiterbildung arbeiten, sondern auch die technischen Elemente sehen. Und dann gibt es andere Elemente für Fälle, wo wir Wahlen haben. Moldau und Rumänien lassen grüßen", sagte Berset in Hinblick auf die massive Einflussnahme Russlands in beiden Ländern. "Man muss sehen, ob wir das vielleicht lösen können durch eine mögliche Konvention gegen Desinformation und ausländische Einflussnahme."
Drei Säulen gegen Straffreiheit in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
Um Russland für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen, verfolge der Europarat drei Ansätze, schilderte Berset. Die erste Säule sei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Russland sei bis zum 16. September 2022 Vollmitglied und an die Konvention gebunden gewesen. "Das heißt, die ganze Phase von 2014 bis 2022 ist gedeckt. Wir haben noch Tausende von Fällen, die noch nicht entschieden sind. Der Gerichtshof in Straßburg ist der einzige weltweit, der solche Fälle angeht."
Die zweite Säule sei ein Schadensregister. "Da werden wir Mitte Dezember einen nächsten Schritt haben in Den Haag mit der Entwicklung einer Claims Commission." Die dritte Säule sei das geplante Sondertribunal. Im Juni wurde ein Vertrag zwischen dem Europarat und der Ukraine unterschrieben, um das Tribunal zu fixieren. Wann könnte ein solches Sondertribunal operativ sein? "Das ist abhängig vom politischen Willen der Staaten. Die Europäische Union hat uns Mittel zur Verfügung gestellt für die Vorbereitungen", sagte Berset.
Der Europarat ist die führende Menschenrechtsorganisation Europas. Er hat 46 Mitgliedstaaten, von denen 27 Mitglieder der Europäischen Union sind. Russland wurde im März 2022 wegen seines Angriffskrieges auf die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen.
(Das Interview führte Thomas Schmidt/APA)
