"Nein, die Frage der irischen Wiedervereinigung ist nicht gelöst. Aber sie wird auch nicht durch ein Referendum mit 51 zu 49 Prozent der Stimmen gelöst werden", sagte Bruton mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse zwischen Republikanern und Unionisten in Nordirland. Zwar sei es möglich, dass der Anteil der Unionisten an der Bevölkerung der Region auf 49 Prozent sinke, doch wäre eine so stark gespaltene Gesellschaft "unmöglich zu managen". Die Unionisten würden der Republik Irland nämlich sehr feindselig gegenüber stehen, sagte er in Anspielung auf den jahrzehntelangen Bürgerkrieg, der erst durch das Karfreitagsabkommen im Jahr 1998 beendet wurde. Dieses sieht auch eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung vor.
Neutralität "zu einer Doktrin geworden"
Während der Brexit den irischen Einigungsbestrebungen trotz des mehrheitlichen Pro-EU-Votums in Nordirland keinen erkennbaren Rückenwind verschafft hat, könnte die Neutralität Irlands zu einem immer größeren Stolperstein werden. "Die NATO ist absolut ein Thema", sagte Bruton mit Blick auf die starke Verankerung der Neutralität im der irischen Gesellschaft. Exemplarisch dafür steht die linksnationalistische Partei Sinn Fein, die seit Jahren in beiden Landesteilen im Aufschwung ist. Sie tritt nicht nur als einzige irische Großpartei offensiv für die irische Einheit ein, sondern ist auch eine Bannerträgerin der Neutralität des Landes.
Laut dem früheren Wirtschafts- und Bildungsminister müsste Irland im Zuge der Wiedervereinigung auch dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis beitreten. Noch in den 1940er-Jahren wäre Irland dazu bereit gewesen. Die einst als Schutz gegen den übermächtigen Ex-Kolonialherrn Großbritannien erklärte Neutralität sei aber in den vergangenen Jahrzehnten "zu einer Doktrin geworden, an der die Menschen emotional sehr hängen", so Bruton. Dies habe sich auch bei der jüngsten Präsidentenwahl gezeigt, bei der sich die glühende Neutralitätsbefürworterin Catherine Connolly klar durchsetzte.
Entsprechend sei derzeit keine irische Partei für einen NATO-Beitritt. "Es wäre sehr tapfer, so eine Position einzunehmen", kommentierte Bruton. Allerdings sei derzeit auch in Irland eine Debatte darüber im Gange, wie man sich an der künftigen europäischen Verteidigungspolitik beteiligen könne. So will das Parlament noch vor Weihnachten eine Bestimmung abschaffen, die jeglichen Auslandseinsatz des irischen Militärs von einem Mandat des UNO-Sicherheitsrates abhängig macht. Auch an der EU-Verteidigungskooperation PESCO beginne Dublin sich zu beteiligen.
Brexit wirtschaftlich besser überstanden als erwartet
Das Land wird derzeit von einer großen Koalition aus den beiden Traditionsparteien Fianna Fáil (FF) und Fine Gael (FG) regiert, mit FF-Chef Michéal Martin als Regierungschef. Diese machte sich international auch als Vorkämpferin für die Palästinenser einen Namen. Bruton erklärt dies historisch. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit der britischen "Kolonialpolitik" stünden die Iren den Palästinensern mit großer Sympathie gegenüber. Man habe sich für eine Anerkennung Palästinas entschieden, um zu signalisieren, dass man keine unilateralen Akte zulasse. Ähnlich wie bei Sanktionen seien die unmittelbaren Auswirkungen eines solchen Schritts gering, trotzdem sei es wichtig "zu zeigen, wie sich die internationale Gemeinschaft fühlt".
Den Brexit habe Irland ganz gut überstanden, bilanziert Bruton. "Das Wichtigste ist, dass keine harte Landgrenze in Irland entstanden ist." Wirtschaftlich würden die negativen Effekte zwar überwiesen, "aber es war nicht so negativ, wie manche befürchtet haben". Viele kleinere irische Unternehmen hätten unter dem EU-Austritt ihres Hauptabsatzmarktes Großbritannien gelitten, andere Sektoren hätten sich gut entwickelt. "Die irische Wirtschaft ist widerstandsfähig und hat etwa auch der Finanzkrise und der Pandemie widerstanden", so der frühere Wirtschaftsminister.
(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA)
(Quelle: APA)
