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Naim Qassem wird neuer Anführer der Hisbollah

Vier Wochen nach der Tötung ihres Anführers Hassan Nasrallah hat die proiranische Hisbollah-Miliz im Libanon einen Nachfolger ernannt. Neuer Generalsekretär werde der bisherige Vize-Chef Naim Qassem, teilte die Schiiten-Miliz am Dienstag mit. Sein Vorgänger Nasrallah stand von 1992 bis zu seinem gewaltsamen Tod am 27. September an der Spitze der Hisbollah. Er wurde bei einem israelischen Luftangriff auf einen südlichen Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut getötet.

Naim Qassem.
Naim Qassem.

Der Shura-Rat der Miliz habe sich auf die Wahl Qassems für den Posten entsprechend dem "anerkannten Verfahren für die Wahl des Generalsekretärs" geeinigt, teilte die Hisbollah mit. Qassem führe nun die Miliz und den Islamischen Widerstand in "edler Mission" an. Die Miliz kündigte an, die bisherigen Ziele unter dem neuen Anführer weiterzuverfolgen "bis zum Sieg". Am aktuellen Verlauf des Kriegs mit Israel dürfte sich mit der Ernennung aber wenig ändern. Qassem gilt als vergleichsweise schwach und dürfte an das Erbe Nasrallahs als Anführer kaum heranreichen.

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant schrieb bei X zu einem Foto Qassems, dieser sei als neuer Chef nur "befristet angestellt" und "nicht für lange Zeit" - offenbar in Anspielung darauf, dass Israels Armee auch diesen Hisbollah-Chef töten könnte.

Qassem war bereits 1991 vom damaligen Generalsekretär der Hisbollah, Abbas al-Musawi, zum Stellvertreter ernannt worden. Al-Musawi starb im darauf folgenden Jahr bei einem israelischen Hubschrauberangriff. Sein Nachfolger wurde Nasrallah, unter dem Qassem Vize blieb. Seit langem ist er einer der führenden Vertreter der Miliz. So gab er ausländischen Medien Interviews auch während der im vergangenen Jahr eskalierten Feindseligkeiten mit Israel. Qassem war auch der erste in der Hisbollah-Führung, der nach der Tötung Nasrallahs eine Fernsehansprache hielt. "Was wir tun, ist das absolute Minimum", erklärte er damals. "Wir wissen, dass der Kampf langwierig sein kann."

Nach Nasrallahs Tod Ende September galt dennoch vor allem Hashem Safieddine, Chef des Hisbollah-Exekutivrats, als sein designierter Nachfolger. Vergangene Woche hatte die Miliz aber bestätigt, dass dieser schon Wochen zuvor bei einem Angriff auf das Hauptquartier des Hisbollah-Geheimdienstes nahe Beirut getötet worden war. Dadurch rückte Qassem in den obersten Machtzirkel auf.

Qassem wurde 1953 in Beirut geboren, seine Familie stammt aus dem Süden des Libanons. Sein politisches Engagement nahm seinen Anfang in der libanesischen schiitischen Amal-Bewegung. Er verließ die Gruppe 1979 im Zuge der Islamischen Revolution im Iran, die das politische Denken vieler junger schiitischer Aktivisten im Libanon prägte. Qassem nahm an Treffen teil, die zur Gründung der Hisbollah führten. Diese erfolgte 1982 mit maßgeblicher Unterstützung der iranischen Revolutionsgarde und ist eine Reaktion auf die israelische Invasion des Libanons im selben Jahr. Wie Nasrallah ist Qassem ein Kleriker des schiitischen Islams, studierte im Libanon aber auch Chemie und lernte Französisch. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder.

Seit die Hisbollah, die nicht nur Miliz sondern auch politische Partei ist und ein soziales Netzwerk unterhält, 1992 erstmals bei einer Parlamentswahl antrat, ist Qassem ihr Wahlkampf-Koordinator. Die Hisbollah (Partei Gottes) entwickelte sich während des Bürgerkrieges im Libanon 1975 bis 1990 von einer kleinen schiitischen Gruppe zu einer einflussreichen Größe über die Grenze hinaus. 1983 vertrieb sie die israelischen Streitkräfte aus dem Libanon. 2006 kämpfte sie in einem monatelangen Krieg im Libanon gegen Israel. Dieses konnte die schwer bewaffnete und vom Iran unterstützte Miliz nicht besiegen und zog seine Truppen ab. Für die Hisbollah war dies ein enormer Triumph, der ihr Anhänger nicht nur in ihren Hochburgen im Südlibanon brachte. Israel betrachtete die Miliz schließlich als den gefährlichsten Gegner an seinen Grenzen.

Qassem sagte in einer Ansprache am 8. Oktober, dass die Hisbollah die Bemühungen des libanesischen Parlamentspräsidenten Nabih Berri um eine Waffenruhe im Libanon unterstütze. Erstmals nannte er dabei nicht eine Waffenruhe im Gazastreifen, wo die verbündete Hamas und Israel seit einem Jahr Krieg führen, als Voraussetzung für einen Stopp der Hisbollah-Angriffe auf das Nachbarland. Er erklärte aber auch, der Konflikt zwischen seiner Organisation und Israel sei ein Krieg, bei dem es darum gehe, wer zuerst weine. Die Hisbollah werde nicht zuerst weinen, trotz "schmerzhafter Schläge" durch Israel seien ihre Fähigkeiten intakt.

In seinen Äußerungen erweckt Qassem den Eindruck eines Hardliners. Anders als Nasrallah wird er aber nicht als starker Kommandant gesehen, der Kämpfer gegen Israel anführen kann. Mohanad Hage Ali, der beim Carnegie Middle East Center zur Hisbollah forscht, beschrieb Qassem als "Bildungs-Figur" und als jemand, der gute Reden halten könne. An die "begeisternde Kraft" Nasrallahs bei den Hisbollah-Anhängern reiche er aber nicht heran, sagte Hage Ali. Während Nasrallah aus ärmlichen Verhältnissen kam, stammt Qassem aus einer Mittelschichtsfamilie.

Am Verlauf des Kriegs dürfte sich durch den Wechsel an der Hisbollah-Spitze wenig ändern, denn die verschiedenen Flügel der Miliz handeln weitgehend unabhängig und dezentral. Auch deshalb setzte sie ihre Angriffe gegen Israel auch ohne Anführer Nasrallah fort. Qassem dürfte nun vor allem die großen Ziele neu abstecken, darunter auch die Bedingungen für eine mögliche Waffenruhe mit Israel, und versuchen, die Kampfmoral innerhalb der Miliz zu stärken. Diese hat seit Mitte September zahlreiche empfindliche Treffer durch das israelische Militär einstecken müssen.