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Kluge Politik blickt über die Grenzen

Die EU-Chefs ändern ihren Kurs in der Migrationspolitik. Das ist gut so. Es ist aber nicht genug.

Martin Stricker

Es gibt keine Flüchtlingskrise. Die Zahl der Hilfesuchenden an den Toren Europas ist im Vergleich zum Höhepunkt im Oktober 2015 um mehr als 90 Prozent gesunken. 2018 erreichten knapp 43.000 Menschen die südeuropäischen Küsten, die meisten von ihnen Migranten. Noch ein paar Tausend schafften es über den Balkan. Die Bevölkerungszahl der EU beträgt 511 Millionen Menschen.

Wie also konnte aus einer nicht existierenden Flüchtlingskrise eine handfeste EU-Krise werden? Vordergründig hat es mit Italien und Bayern zu tun. In Rom regiert die stramm rechtsnationale Lega, deren Führer Matteo Salvini den Verdacht hegt, dass die privaten Flüchtlingshelfer im Mittelmeer eher Migrantentaxis sind als Seenotretter, weshalb er ihnen das Anlegen in italienischen Häfen untersagte. In Bayern fürchten sich die starken Männer der CSU vor den Landtagswahlen im Oktober und der AfD, weshalb sie glauben, jetzt sofort und in der Sekunde Muskeln zeigen zu müssen, und Kanzlerin Angela Merkel im Genick sitzen.

Ein zweiter Blick aber zeigt ein breiteres Bild. Die Frage der unkontrollierten Einwanderung beherrscht seit 2015 die politische Debatte. Und nur weil es derzeit keine Flüchtlingskrise gibt, heißt das noch lange nicht, dass die nächste nicht kommen wird. Die Länder der EU wollen gerüstet sein.

Fragt sich nur: Wie?

In vielen Nationen sind Vertreter der neuen Rechten an die Regie-rung gelangt. Irgendwie zählt auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dazu, selbst wenn er sich postideologisch gibt. Aber er geht einen Sonderweg, nicht nationalistisch, nicht vergangenheitsverliebt. Doch das ist ein anderer Diskurs.

Die neuen Rechten jedenfalls machen Druck. Einer ihrer talentiertesten Vertreter ist Österreichs Kanzler Sebastian Kurz. Als erster Politiker im westlichen Teil der EU hat er gefordert, was nunmehr Mainstream ist: Grenzen dicht - für alle, die keinen Anspruch auf Asyl haben.

Genau darauf einigte sich nun der Rat der 28 Staats- und Regierungschefs, das strategische Führungsgremium der EU. Man zeigte Handlungs-, vor allem aber Verhandlungsfähigkeit in dieser langen Nacht in Brüssel. Italien und Griechenland können, wenn sie denn wollen, geschlossene Aufnahmelager für im Mittelmeer Gerettete errichten, wo über deren Asylantrag entschieden wird. Die EU selbst wird versuchen, derartige "Anlandezentren" in Nordafrika zu ermöglichen. Die Migration von bereits registrierten oder gar abgelehnten Asylbewerbern innerhalb der EU soll unterbunden werden.

Europa schließt also die Grenzbalken. Es schützt seine Außengrenzen. Das ist gut so.

Das ist nicht zuletzt Voraussetzung dafür, dass im Inneren die Grenzen offen bleiben und Europa bewahrt, was es erreicht hat. Doch höchste Sorgfalt ist geboten, um nicht Herzenskälte als Kollateralschaden in Kauf nehmen zu müssen. Aufnahmezentren können schnell zu Gefängnissen werden. Endlose Verfahren bedeuten Lagerhaft. Nur noch ein kleiner Schritt führt von Gleichgültigkeit zu Fremdenhass und Parolengeschrei, zur Erosion des Rechts und zur Willkür.

Europa muss den Balanceakt wagen: Hier die Grenzen schützen, dort die moralische Basis nicht verlieren. Es sind die noch intakten europäischen Grundwerte, die uns unterscheiden von Putins Russland, Trumps Amerika und Erdoğans Türkei.

Und noch etwas gibt es zu bedenken: Grenzschutz allein ist nicht genug. Kluge Politik blickt weiter. Der Migrationsdruck lässt erst nach, wenn die Menschen tun können, was fast jeder möchte: zu Hause, in Afrika, ein Leben führen.

Hier liegt die wirkliche Aufgabe für die neuen Rechten der EU und Sebastian Kurz als bald dienstführenden EU-Ratspräsidenten, auch wenn sie schwieriger ist als Lagerbau: Wir könnten aufhören, die afrikanischen Küsten leer zu fischen. Wir könnten darauf verzichten, die afrikanischen Bauern mit Billigimporten unseres Überschusses zu ruinieren. Wir könnten Waffenlieferungen beenden und Kleptokraten das Geld streichen. Wir könnten stattdessen saubere Zukunftstechnologien und wirtschaftliche Entwicklung anbieten.

Ein Traum? Nein, eine Notwendigkeit für Europa.