Stoltenberg sagte, nach Analyse der Militärallianz sei "der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht" worden, die am Dienstag zur Abwehr russischer Raketenangriffe abgefeuert worden sei. Es gebe "keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff" auf Polen. Das Bündnis habe auch "keinen Hinweis darauf, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die NATO vorbereitet", betonte Stoltenberg.
"Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war", sagte auch der polnische Präsident Andrzej Duda in Warschau. Sein Land gehe von einem "unglücklichen Unfall" mit einem ukrainischen Querschläger aus. Die Rakete war am Dienstag in der südostpolnischen Ortschaft Przewodow unweit der ukrainischen Grenze eingeschlagen und hatte zwei Menschen getötet.
Die NATO widersprach damit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der den Raketeneinschlag eine "Botschaft Russlands an den G20-Gipfel" auf Bali genannt hatte. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Oleksij Danilow, forderte am Mittwoch "sofortigen Zugang" zur Einschlagsstelle in Polen. Sein Land sei "bereit, den Beweis für die russische Spur zu übergeben", erklärte er.
Selenskyj zweifelte an, dass es sich bei dem Raketeneinschlag auf polnischem Staatsgebiet um ein ukrainisches Geschoß gehandelt haben soll. "Kann man Fakten oder irgendwelche Beweise von den Partnern erhalten?", fragte der 44-Jährige am Mittwoch vor Journalisten in einem im Fernsehen ausgestrahlten Interview. Der Staatschef verlangte Zugang zu den vorhandenen Daten. "Ich denke, dass es eine russische Rakete war - gemäß dem Vertrauen, das ich zu den Berichten der Militärs habe", unterstrich Selenskyj.
Der Präsident forderte die Einbeziehung ukrainischer Spezialisten bei den Untersuchungen zur Aufklärung des Vorfalls. "Alle unsere Informationen stehen zur vollen Verfügung. Wir haben sie an unsere Partner gegeben seit der Nacht, seit den ersten Stunden, als die Welt begann herauszufinden, was passiert ist", sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache am Mittwochabend. Zugleich bräuchten ukrainische Experten Zugang zu den Informationen, die an Ort und Stelle gesammelt worden seien, erklärte er.
Der Kreml hatte betont, Russland habe mit dem Raketeneinschlag in Polen "nichts zu tun". Auf Bildern von Trümmern an der Einschlagstelle hätten russische Militärexperten "eindeutig" Fragmente einer Rakete des ukrainischen S-300-Luftabwehrsystems identifiziert. S-300-Raketen werden von der Ukraine wie auch von Russland eingesetzt. Am Mittwoch zitierte das russische Außenministerium den polnischen Botschafter ins Außenamt.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow begrüßte die "zurückhaltende" Reaktion der US-Regierung. Präsident Joe Biden hatte es schon wenige Stunden nach dem Einschlag als "unwahrscheinlich" bezeichnet, dass die explodierte Rakete von russischem Boden aus abgeschossen worden sei.
Stoltenberg machte Moskau trotz der jüngsten Erkenntnisse für den Vorfall verantwortlich: "Russland trägt letztlich die Verantwortung, denn es setzt seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine fort." Ähnlich äußerte sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei einer Videokonferenz mit den bis zu 50 Ländern der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe am Mittwoch. Er kündigte zudem an, US-Experten würden Polen bei der Untersuchung des Vorfalls unterstützen.
"Die Welt weiß, dass Russland die letzte Verantwortung für diesen Vorfall trägt", sagte Austin vor Journalisten in Washington. "Die Ukraine hatte - und hat - jedes Recht, sich zu verteidigen", betonte eine Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats. Russland sei verantwortlich, weil es massenhaft Raketen insbesondere auf die zivile Infrastruktur der Ukraine abgeschossen habe.
US-Generalstabschef Mark Milley hat nach dem Raketeneinschlag in Polen vergeblich versucht, Kontakt zu seinem russischen Amtskollegen Waleri Gerassimow aufzunehmen. Alle Anstrengungen seiner Mitarbeiter, den Generalstabschef zu erreichen, seien erfolglos geblieben, sagte Milley am Mittwoch in Washington. Er habe aber mehrfach mit dem ukrainischen Armeechef Walerij Saluschnyj und anderen europäischen Generälen sprechen können, betonte Milley.