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Russlands Propaganda: Das Opfer ist selbst schuld

Die Schuld den Opfern zuzuschieben, ist ein altbewährtes Mittel autoritärer Macht. Auch Wladimir Putin bedient sich dieser Rhetorik - und knüpft damit an imperiale Narrative an, die Gewalt legitimieren sollen. Doch die Ukraine stellt sich dem mit Widerstand und Selbstbehauptung entgegen.

Daryna Melashenko
Alltag in der Ukraine: In der Metro warten, bis der Drohnenangriff vorüber ist.
Alltag in der Ukraine: In der Metro warten, bis der Drohnenangriff vorüber ist.

Fünf Luftwaffenstützpunkte, 40 russische Flugzeuge, Verluste in Höhe von sieben Milliarden Dollar. "Unsere Drohnen haben einen Albtraum für die russische strategische Luftwaffe gewoben", so beschrieben ukrainische Medien die Operation "Spinne" des Geheimdienstes SBU. Winzige FPV-Drohnen, auf kommerziellem Wege nach Russland gebracht, starteten aus Lkw und trafen militärische Flugplätze. Auf Videos sind Autoreifen zu sehen, die auf den Tragflächen russischer Flugzeuge angebracht sind - angeblich ein Versuch, das "maschinelle Sehen" an der Identifikation zu hindern, worüber sich die Ukrainer herzhaft amüsierten.

So begann der Sommer mit erfreulichen Nachrichten über die Zerstörung russischer Waffensysteme. Jener Systeme, mit denen regelmäßig Raketen auf ukrainische Städte abgefeuert werden. Die Bedeutung dieser Operation für die ukrainische Gesellschaft lässt sich kaum in ein einzelnes Wort fassen: Erleichterung (weniger Bomber, weniger Angriffe), Glaube an die Kraft der eigenen Armee, die zwischen Zivilisten und Invasoren steht. Auch das Gefühl einer gerechtfertigten und zielgerichteten Reaktion auf Einrichtungen, die selbst regelmäßig den Tod bringen.

Und dennoch: auch Besorgnis. Die Sorge vor einer möglichen Vergeltung war da, doch die erste Reaktion des Feindes wirkte fast schon absurd. "Moskau beklagte sich bei den USA über die ukrainischen Angriffe", hieß es. Noch vor einem Jahr hätte eine solche Aussage seltsam gewirkt. Es folgte noch eine: "Der amerikanische Präsident erklärte, die Ukraine habe Russland zu massiven Angriffen provoziert." Massive Angriffe sind kein Witz. Sie bringen Todesangst, Wut, schlaflose Nächte, Verletzte und Tote. Die Ukrainer erleben sie nicht zum ersten Mal. Solche Angriffe geschehen regelmäßig und ohne Anlass. In der Nacht zum 6. Juni etwa setzte Russland nur sieben strategische Bomber ein, was auf Verluste in ihrer Luftwaffe hindeutet.

Die These "Die Ukraine ist selbst schuld" gehört inzwischen zum Arsenal russischer Waffen. Sie ist ein Beispiel russischer Propaganda, mit der Russland seit Jahren seine Aggressionen rechtfertigt. In zwei Tschetschenienkriegen, im Georgienkrieg 2008. "Antwort auf Bedrohungen der russischen Sicherheit", "Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung" - so lautet die Rhetorik. Russland ist nicht das erste Imperium, das seine Gewalt mit vermeintlichen Bedrohungen rechtfertigt. Es ist Teil imperialer Tradition: Die Opfer der mongolischen Invasion "waren selbst schuld", weil sie Dschingis Khans Herrschaft nicht anerkannten. Kolonialkriege seien keine Akte der Gewalt, sondern eine "zivilisatorische Mission", ein "Kampf gegen die Barbarei" oder eine "Bestrafung für Ungehorsam". So klingt es angenehmer, für andere wie für das eigene Ohr. Auch in Mitteleuropa kann man sich an ähnliche Rhetorik noch gut erinnern.

Mittlerweile beende ich die Lektüre eines Standardwerks über psychische Traumata. Die zwei häufigsten Ursachen für posttraumatische Belastungsstörungen sind Krieg und sexuelle Gewalt. Die Aussage "selbst schuld" passt zu beidem. Sie bleibt ein Mittel zur Legitimation von Gewalt gegenüber den Nachbarn, der Gesellschaft. Ziel ist es, die Verantwortung auf das Opfer zu verschieben, Gewalt zu rechtfertigen, den Täter reinzuwaschen. Deshalb überrascht es mich nicht, von Donald Trump russische Narrative zu hören. Ihm scheint an guten Beziehungen zu Russland gelegen zu sein. Allianzen mit Gewaltopfern hingegen bringen weniger Vorteile.

Doch zum wiederholten Mal zeigt die Ukraine: Wir sind keine typischen Opfer. Unbequem, laut, resilient, kreativ. Wir haben keine imperiale Vergangenheit. Selbst die Chronologie unseres Staatswesens verlief lange eher gestrichelt als gerade. Aber diesmal hat sich unser instabiler historischer Puls stabilisiert. Auch dank der weltweiten Unterstützung unserer Freunde.

Ich glaube an uns so fest wie an meinen Puls, der nach den Panikattacken im Winter wieder fröhlicher pocht. Ich bin immer noch angespannt, wütend, erschöpft, aber am Leben. Während ich diesen Text schreibe, gehen die Nachrichten über neue Sabotageaktionen gegen russische Militärlogistik ein. Sich verteidigen ist keine Provokation. Es ist ein Muss in einer Welt, in der der radikale rechte Populismus wieder Auftrieb bekommt.

Daryna Melashenko
(29) floh von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund. Sie ist Autorin und Übersetzerin.