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SN-Wochenende: Ein Mormone im Weißen Haus?

Abbild einer verwirrten Supermacht: Nicht wenige Amerikaner halten ihren Präsidenten für einen Muselmann, vor allem Republikaner. Höchste Zeit für einen Blick auf die seltsamen "Heiligen der Letzten Tage".

SN-Wochenende: Ein Mormone im Weißen Haus?
SN-Wochenende: Ein Mormone im Weißen Haus?


Mark Twain, der alte Spötter, hielt das Buch Mormon für den langweiligen Teil von eingebildeter Geschichte, "gedrucktes Chloroform". Doch Religionen sind nun einmal Erzählungen und religiöse Überzeugungen nur über den Weg des irrationalen Glaubens aufzuspüren. Offenbar finden viele Menschen die Geschichten in der "Bibel der Mormonen" unwiderstehlich. Wenn es stimmt, was der Autor Jon Krakauer für eine Reportage über religiösen Fundamentalismus recherchiert hat, wurden mehr als hundert Millionen Exemplare gedruckt, übersetzt in über 70 Sprachen: "Wer das Buch Mormon kritisiert, darf nicht vergessen, dass die Glaubwürdigkeit (. . .) bestimmt nicht geringer ist als die der Bibel, des Korans oder der heiligen Schriften anderer Religionen. Diese Texte haben einfach den großen Vorteil, dass sie in den dunklen Winkeln des Altertums entstanden und dadurch viel schwerer zu widerlegen sind."

Vor nicht einmal 200 Jahren ist das Buch Mormon erschienen, es wurde Anfang 1830 bei Egbert Grandin and Company in Palmyra, New York, gedruckt und im März veröffentlicht. Die Geschichte seiner Entstehung ist einigermaßen verzwickt, das Buch beruht auf der Abschrift von Texten mehrerer Goldplatten, die der Engel

Moroni, Sohn eines Propheten namens Mormon, 1827 bei Palmyra dem Landarbeiter, Wahrsager und Hellseher Joseph Smith überlassen haben soll. Bei der Übersetzung der wundersamen Hieroglyphen erwies sich eine von Gott gegebene

Zauberbrille als äußerst hilfreich, die der Engel Smith ebenfalls ausgehändigt hatte.

Der Berg Cumorah ist ein Hügel aus Gletscherschutt, kaum 60 Meter höher als die umliegenden Maisfelder. Auf dem Gipfel steht Moroni, eine imposante Statue.

Irgendwo in unmittelbarer Nähe grub

Joseph Smith die goldenen Platten aus, wie Moroni ihm geheißen hatte. Seit 1937 wird das dramatische Geschehen alljährlich an sieben Sommerabenden wiederaufgeführt, und weil das eine sehr amerikanische Angelegenheit ist, rauben einem Spezialeffekte aus Hollywood beinahe den Atem - Vulkane, Feuerbälle, Explosionen. Ein Blitz schlägt in einen Schiffsmast, Christus erscheint, ein Prophet brennt auf dem Scheiterhaufen. Der Eintritt ist frei.

Um den Vorschuss aufbringen zu können, den der Verleger verlangte, musste ein Gehilfe Smiths seine Farm verkaufen. Mit dem Buch wurde Joseph Smith zum Religionsgründer, formell im April 1830, und das Buch wurde zur Grundlage seiner neuen Religion. Die Menschen sehnten sich in diesen Jahrzehnten offenbar nach neuen religiösen Erzählungen, etwas später entstanden die Bewegungen der Adventisten, der Pfingstler, der Zeugen Jehovas. Auch der neue Kult um Joseph Smith fand rasch Anhänger, von 50 im April 1830 stieg ihre Zahl auf tausend im Jahr darauf.

Heute gehört die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage", wie die Mormonen offiziell heißen, zu den am schnellsten wachsenden Glaubensgemeinschaften, weltweit dürfte es 14 Millionen Mormonen geben. Die frommen unter ihnen glauben jedes Wort im Buch Mormon - etwa dass ein hebräischer Stamm 600 Jahre vor Christi Geburt, vor der letzten Eroberung durch die Babylonier, Jerusalem verlassen und auf Schiffen Nordamerika erreicht hat. Dass sich die Sippe durch einen Bruderzwist aufgespaltet hat in die rechtschaffenen, hellhäutigen Nephiten und die trägen, boshaften und hinterlistigen Lamaniten, die ein verärgerter Gott mit dem Fluch dunkler Haut belegt hatte. Und dass Jesus die streitenden Lager nach seiner Auferstehung in Nordamerika besucht hat.

Schließlich aber, so heißt es im Buch Mormon, brachen die Feindseligkeiten

erneut aus, die Lamaniten metzelten alle Nephiten nieder, mit Ausnahme von Mormons Sohn Moroni. Die siegreichen Lamaniten waren aus dieser Sicht die Vorfahren der Indianer, aber auch den "roten Söhnen Israels" erging es schlecht, sie verloren die Erinnerung an ihr jüdisches Erbe. Joseph Smiths Buch, sagt Jon Krakauer, funktioniere als Theologie und zugleich als Geschichte der Neuen Welt: "Für erschreckend viele Leute ergibt diese Geschichte durchaus einen Sinn."

Smith erklärte, die Führer der Christen hätten im ersten Jahrhundert nach der Kreuzigung Jesu einen falschen Weg eingeschlagen und die Kirche in die Irre geführt. Alle christlichen Lehren danach, ob katholisch oder protestantisch, seien eine Riesenlüge, die Mormonen dagegen die Auserwählten des Herrn, Gottes Eigentum und wahre Söhne und Töchter Israels.

Joseph Smith und seine Mormonen wurden angefeindet und verfolgt, manchen gelten die Mormonenvertreibungen Mitte des 19. Jahrhunderts als erster amerikanischer Bürgerkrieg. Die letzten Heiligen aber ließen sich nicht unterkriegen, sie zogen von Illinois, wo ihre ersten Siedlungen entstanden waren, nach Westen, so lang, bis sie an einen Fluss kamen, der in einen Salzsee mündete. Den Fluss tauften sie Jordan, sie bauten einen Tempel und eine Versammlungshalle und die Stadt Salt Lake City.

Wer von Las Vegas aus in den Mormonenstaat Utah fährt, bemerkt schon in den ersten Supermärkten nach der Landesgrenze den Unterschied zum lauten, schrillen Rest der USA, Utah ist stiller, bescheidener, sauberer, und Utah war schon bio, ehe Biolebensmittel den Siegeszug im "grünen" Mitteleuropa antraten.

Als die Mormonen 1847 Salt Lake City gründeten, war ihr Religionsstifter bereits drei Jahre tot. Joseph Smith war nicht nur Bürgermeister in Nauvoo, Illinois, er bewarb sich auch um das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten. Als er gegen eine Zeitung vorging, die sein Wirken als Religionsstifter kritisiert hatte, ließ ihn der Gouverneur verhaften. Am 27. Juni 1844 wurde er im Gefängnis in Carthago von einer aufgebrachten Menschenmenge getötet.

Smith hinterließ nicht nur zwischen 30 und 40 Ehefrauen und eine Religion, die den Katholiken und protestantischen Kirchen der USA erfolgreich Konkurrenz macht. Zu seinem Erbe zählen auch viele Probleme, über die jetzt Mitt Romney stolpern könnte bei seinem Versuch, 168 Jahre nach Smiths Tod ins Weiße Haus einzuziehen. So sind die Polygamie, von der sich die Mormonen in ihrer Mehrheit erst spät und unter Krämpfen verabschiedet haben, und obskure Riten wie die Totentaufe dem Rest der Amerikaner nur schwer zu vermitteln, und die anhaltende Distanz zu dunkelhäutigen Menschen provoziert stetigen Rassismusverdacht, obwohl gerade die Mormonen keine Sklavenhalter waren.

Der Journalist und Buchautor Jon Krakauer berichtet über Fundamentalisten unter den Mormonen, die weiterhin unbeirrt an der Vielweiberei als religiöse Pflicht festhalten - im 21. Jahrhundert. Seinen Recherchen zufolge leben in Kanada, Mexiko und im Westen der USA mehr als 30.000 solcher Polygamisten, "manche Experten schätzen, dass es vielleicht sogar um die hunderttausend sind." Dies sind nicht einmal ein Prozent der Mormonen, und doch bereitet dies laut Krakauer der Führung der Hauptkirche "großes Unbehagen".

Angefeindet werden die Mormonen immer noch, vor allem von fundamentalistischen Evangelikalen, frommen Konservativen, die bei den Republikanern ziemlich viel Einfluss haben. Nicht selten tauchen sie als Demonstranten am Berg Cumorah auf, wenn dort die Mormonen feiern, und schwenken Plakate, auf denen geschrieben steht: "Joseph Smith war ein Hurenbock!", "Es gibt nur ein Evangelium!" oder schlicht: "Mormonen sind keine Christen".

Der letzte Ausspruch steht im Einklang mit der Lehrmeinung. In ihren Stellungnahmen erkennen die evangelische und die katholische Kirche die von Mormonen erteilten Sakramente nicht als christlich an.
Informationen
u. a. aus Jon Krakauers Buch
"Mord im Auftrag Gottes". Eine Reportage über
religiösen Fundamentalismus. Piper-Verlag.