"Russland ist schwach, Putin ist schwach. Habt keine Angst vor ihm. Er ist eine kleine Person, der mittels Demokratie und Freiheit viel hätte tun können, um Russland reicher und glücklicher zu machen, aber KGB-Agenten können das nicht tun. Was wir heute sehen ist der Tod Russlands", betonte der pro-westliche Ex-Präsident und Anführer der Orangenen Revolution im Jahr 2004 beim "European Forum Vienna" des Austrian Institute for European and Security Policy (AIES) vor zahlreichen Spitzenpolitikern, darunter Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel und Ex-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner (beide ÖVP), dem früheren slowakischen Ministerpräsidenten Mikuláš Dzurinda und dem ehemaligen irischen Minister Richard Bruton.
Europa wurde "putinisiert"
Russlands Wirtschaftskraft sei geringer als jene der Niederlande, "und das, obwohl dieses Land unter dem Meeresspiegel liegt", sagte Juschtschenko. Hingegen würden die Staaten, die die Ukraine unterstützten, 60 Prozent der Wirtschaftskraft der Welt ausmachen. Es gehe nur darum, dass sie "mit einer Stimme sprechen" müssen. Oberste Priorität sei, Russland seine Einnahmebasis zu entziehen. 65 Prozent der russischen Staatseinnahmen kämen aus Öl und Europa sei immer noch unter den größten Abnehmern.
In seiner emotionalen und mit langem Applaus bedachten Rede zeichnete Juschtschenko nach, wie Europa "putinisiert" worden sei. Europa zahle Milliarden für russische Gaslieferungen, und Putin beschäftige Dutzende frühere europäische Regierungschefs und Minister. Wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf Georgien hätten Deutschland und Frankreich das Abkommen für die Gaspipeline Nord Stream 1 unterzeichnet. Als Putin sechs Jahre später die Ukraine erstmals überfiel und die Krim annektierte, sei kurz danach das Abkommen für Nord Stream 2 unterfertigt worden.
Vergleich mit Münchner Abkommen 1938
Es freue ihn, dass Europa seine Politik nun überdenke, so Juschtschenko. Zugleich erteilte er Territorialkonzessionen an Putin eine klare Absage. Die diesbezüglichen Erwägungen im Westen erinnerten ihn an das Münchner Abkommen im Jahr 1938, als Großbritannien und Frankreich dem deutschen Diktator Adolf Hitler die Tschechoslowakei geopfert hätten. "Wenn wir darüber sprechen, Putin zu beschwichtigen, sollten wir nicht den nächsten Fehler machen. Wir sollten aus der Geschichte lernen", sagte Juschtschenko.
Juschtschenko betonte, dass die Ukraine derzeit politisch so geeint sei wie noch nie. "Das ist vielleicht der größte Erfolg der letzten 30 Jahre", betonte der Politiker, der im Jahr 2004 einen Giftanschlag überlebt und nach Massendemonstrationen gegen Wahlbetrug zugunsten des pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch an die Macht gekommen war. Heute sei die Ukraine "der Schutzschild Europas", betonte er.
Ähnlich wie Juschtschenko äußerte sich auch sein früherer Außenminister Wolodymyr Ohrysko. "Die Ukraine ist ein essenzieller Teil des europäischen Sicherheitssystems", betonte er in einer Podiumsdiskussion unter anderem mit Bruton und Ferrero-Waldner. Der ukrainische Ex-Botschafter in Wien kritisierte, dass in Europa immer noch viele Menschen ein falsches Bild von Russland hätten. "Auch 100 Jahre später sind die nützlichen Idioten immer noch am Leben", zitierte er ein berühmtes Zitat des Gründers der Sowjetunion, Wladimir Lenin. "Die Ära der Abrüstung ist vorbei, genauso wie die Ära der Neutralität", sagte Ohrysko in Richtung Österreichs. "Wir nähern uns einem neuen Zeitalter, dem Zeitalter der bewaffneten Abschreckung."
Slowakischer Ex-Premier für "Europäischen Sicherheitsrat"
In ihren Eröffnungsstatements hatten AIES-Präsident Werner Fasslabend (ÖVP), Schüssel, Dzurinda und der Generalsekretär im Verteidigungsministerium, Arnold Kammel, zu verstärkten Anstrengungen für eine europäische Verteidigung gegen die von Russland ausgehende Bedrohung aufgerufen. "Nein, wir sind nicht bereit. Europa unterschätzt die Lage", betonte Ex-Verteidigungsminister Fasslabend. Dzurinda sprach sich in seiner Eigenschaft als Chef des Brüsseler Thinktanks Wilfried Martens Centre für die Schaffung eines "Europäischen Sicherheitsrates" bestehend aus den Staats- und Regierungschefs aus, der regelmäßig tagen solle.
Schüssel betonte, dass der "hybride Krieg" Russlands gegen Europa schon längst in vollem Gange sei. Die Unterstützung der Ukraine sei daher eine "Verpflichtung", weil es dabei auch um die Sicherheit Europas gehe. Der Ex-Kanzler bemängelte, dass Europa den russischen Desinformationsbestrebungen praktisch nichts entgegensetze und "naiv" sei. Entscheidend sei, die Mentalität der Menschen zu ändern, verwies er auf Umfragen zur Verteidigungsbereitschaft. Doch sei diesbezüglich schon einiges in Bewegung. Hätten bei einer Umfrage im Vorjahr nur 13 Prozent der Österreicher gesagt, sie würden ihr Land mit der Waffe verteidigen, seien es heuer bereits 32 Prozent.
Österreichs Bevölkerung "bereit, die Veränderung anzunehmen"
Kammel unterstrich, dass die Weiterentwicklung der europäischen Verteidigungspolitik für Österreich "von größer Bedeutung" sei. Er sprach sich aus, diesbezüglich auch offensiv das Gespräch mit skeptischen Bürgern zu suchen. "Wir sollten uns nicht vor der Konfrontation fürchten", betonte er in Anspielung auf die starke Unterstützung für die Neutralität im Land. "Die Bevölkerung ist bereit, die Veränderung anzunehmen." So solle etwa mehr darüber gesprochen werden, dass Österreich schon jetzt überproportional an Verteidigungsprogrammen im Rahmen von Horizon oder dem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) teilnehme. "Wir kämpfen oberhalb unserer Gewichtsklasse", unterstrich der oberste Beamte im Verteidigungsressort.
(Quelle: APA)