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Wer soll Marine Le Pen noch stoppen?

Die liberale Mitte und die Linken schmieden in Frankreich eine seltene Allianz. Warum die Rechtspopulisten die Wahl noch nicht gewonnen haben.

Marine Le Pen feiert den Sieg im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen.
Marine Le Pen feiert den Sieg im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen.

Geht der liberale französische Präsident Emmanuel Macron in die Geschichte ein als derjenige, der den Rechtspopulisten den Weg an die Regierungsspitze geebnet hat? Das vorläufige Endergebnis der vorgezogenen Parlamentswahl am Sonntag war jedenfalls eine ernüchternde Niederlage für den amtierenden Präsidenten. Der rechtsnationalistische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen kann den Erfolg bei den Europawahlen wiederholen und erzielte 33,2 Prozent der Stimmen, dahinter folgten das Linksbündnis Neue Volksfront mit 28 Prozent und das Mitte-Lager von Macron mit 20,8 Prozent. Nach dem ersten Wahlgang sind nur knapp mehr als 70 Sitze von 577 in der Nationalversammlung vergeben. Das heißt, dass beim zweiten Wahlgang kommenden Sonntag noch viel zu holen ist.

1. Warum hat Marine Le Pens Partei noch nicht gesiegt?

Bei den französischen Parlamentswahlen gibt es ein Mehrheitswahlsystem. Für jeden der 577 Wahlkreise wird ein Sitz vergeben. Im ersten Wahlgang müssen dafür die jeweiligen Sieger eine absolute Mehrheit der Stimmen erringen. Das haben von Marine Le Pens Partei am Sonntag 37 geschafft, vom Linksbündnis 32, aber von Macrons "Ensemble"-Allianz nur zwei.

Im zweiten Wahlgang genügt dann eine relative Mehrheit. Die jeweils Erst- und Zweitplatzierten stehen automatisch zur Wahl sowie alle, die mindestens 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten für sich gewinnen konnten. In rund 300 von 577 Wahlkreisen haben sich deshalb jeweils drei Kandidaten für die zweite Runde qualifiziert.

2. Wie will Macron eine rechte Mehrheit verhindern?

Damit Le Pens Partei die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreicht, benötigt sie 289 Abgeordnete. Die am kommenden Sonntag erforderliche relative Mehrheit in einem Wahlkreis (die meisten Stimmen) ist für einen RN-Vertreter leichter bei drei Kandidaten zu erreichen - wenn sich also Macrons Bündnis und die Linken wechselseitig Stimmen wegnehmen.

Noch am Wahlabend hatte daher der französische Präsident zu einem Bündnis gegen die Rechten aufgerufen. Sowohl aus dem Linksbündnis als auch von Macrons Allianz hieß es, man werde in den Wahlkreisen, in denen man auf dem dritten Platz gelandet sei, zugunsten jener Kandidaten zurücktreten, die in der Lage sind, Le Pens Parteifreunde zu schlagen. Der Wortführer der Gemäßigten innerhalb des Linksbündnisses, Raphaël Glucksmann, fragte: "Wollen wir, dass die extreme Rechte das erste Mal in diesem Land die Macht an den Urnen ergreift?" Beschwörende Worte, obwohl Macron im Wahlkampf immer wieder das linke Bündnis für genauso gefährlich erklärt hatte wie das extrem rechte Bündnis.

3. Warum hat Macron vorzeitig wählen lassen?

Der französische Präsident wollte nach dem großen Erfolg der Rechtspopulisten bei der Europawahl "Klarheit" schaffen, wie er es selbst ausdrückte. Das Gegenteil dürfte nun eingetreten sein. Die Lage ist unklarer denn je und das Kalkül Macrons ist vorerst nicht aufgegangen, dass die Wählerinnen und Wähler bei einer nationalen Wahl anders abstimmen.

4. Was ist die Strategie von Marine Le Pen?

Präsident Macron ist mit dem Versprechen angetreten, den Menschen die Gründe zu nehmen, für die Rechtspopulisten zu stimmen. Das Gegenteil tritt nun ein. Marine Le Pen hat mehr als einmal deutlich gemacht, dass die Rechtspopulisten nicht nur die Regierung, sondern auch die Präsidentschaft anstreben.

Darauf zielt Le Pen ab, auch für den Fall, dass der RN nach der zweiten Runde der Parlamentswahl keine absolute Mehrheit haben sollte. RN-Parteichef Jordan Bardella will dann nicht Premierminister werden, um zu verhindern, dass er das Amt nach kurzer Zeit durch ein Misstrauensvotum wieder verliert.

In diesem Fall dürfte Macron eine Art Technokraten-Regierung ernennen, die sich um das Tagesgeschäft kümmert, aber keine Gesetzesvorhaben durchbringen kann, weil die Mehrheit fehlt. Die Nationalversammlung wäre blockiert, weil keines der Lager eine Mehrheit bekäme. Le Pen würde dies vermutlich nutzen, um Macron den Rücktritt nahezulegen.

5. Was ist, wenn Le Pen die absolute Mehrheit schafft?

Sollte der RN tatsächlich die absolute Mehrheit holen, wäre Macron faktisch gezwungen, einen Premier aus den Reihen der Rechtsnationalen zu ernennen. Das würde dann zu einer sogenannten Cohabitation führen, einer Art Zwangsehe zwischen Regierung und Präsident.

In Frankreich gibt es neben dem Präsidenten oder der Präsidentin einen Premierminister oder eine Premierministerin, die oder der Chef der Regierung ist. Meistens stammen beide aus demselben politischen Lager, was das Regieren einfach macht. Das Gegenteil wäre nun der Fall, wenn Le Pens Partei die Regierungsspitze stellen würde. Eine Cohabitation gab es bisher drei Mal, zuletzt von 1997 bis 2002 mit dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac und dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin.

6. Was würde ein RN-Sieg für die EU bedeuten?

Frankreich würde noch mehr zu einem gespaltenen Land, das keinen klaren Kurs mehr fahren kann. Als Präsident hat Macron zwar in der Außenpolitik Vorrang. Aber würde der aufstrebende RN-Parteichef Jordan Bardella Premier, dürfte er seine Linie schwerlich ungehindert fortsetzen können. Marine Le Pen gibt auch nicht so viel auf eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland, die aber auch unter Macron und dem deutschen SPD-Kanzler Olaf Scholz nicht wirklich gut funktionierte. Marine Le Pen möchte auch den Einfluss der EU in Frankreich eindämmen. Die Rechtspopulisten wollen auch die offensive Klimapolitik beenden.