Die junge Frau hat es sich auf einer Betonschutzwand bequem gemacht, so gut es eben geht, und schreit sich nun die Seele aus dem Leib. "Feiglinge", brüllt sie in Richtung eines Lagerhauses, "Faschisten" und andere Beleidigungen, die nicht jugendfrei sind. Sie hält auch nicht inne, als in der kleinen Protestgruppe, die sich in ihrer Nähe versammelt hat, einige Menschen versuchen zu meditieren.
Dabei weiß die junge Frau, die ihren Namen nicht verraten will, dass ihr Protest sinnlos ist. "Die können mich gar nicht hören", sagt sie.
Mit "die" meint sie die Beamten der Migrationspolizei ICE (Immigration and Customs Enforcement), die in dem vielleicht 100 Meter entfernten Lagerhaus, bewacht von einer großen Zahl lokaler Polizisten, eine improvisierte Haftanstalt betreiben. Dort sollen Dutzende von "Sans Papiers" (Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere) festgehalten werden, die von ICE im Großraum Chicago (Illinois) aufgegriffen wurden und nun auf ihre Abschiebung warten.
Seit Tagen kommt es zu Scharmützeln zwischen Demonstranten und Ordnungshütern
So jedenfalls erzählen es die Aktivistinnen und Aktivisten, die entlang der beiden Zufahrtsstraßen demonstrieren und registrieren, wenn wieder ein Fahrzeug mit verdunkelten Scheiben auf das ICE-Gelände rollt. Offiziell will allerdings niemand diese Angaben bestätigen. Die Haftanstalt ist für Außenstehende geschlossen.
Diese Geheimniskrämerei sorgt für eine aufgeheizte Stimmung. Seit Tagen kommt es deshalb vor dem Ausschaffungsgefängnis in einem Industriegebiet in der Gemeinde Broadview, rund 20 Kilometer vom Stadtzentrum Chicagos entfernt, zu Scharmützeln zwischen Demonstranten und Ordnungshütern. Zuletzt wurden am vergangenen Samstagabend 15 Menschen verhaftet, die ein Demonstrationsverbot ignoriert hatten. Die lokale Polizei setzte Tränengas ein.
Solche Szenen seien kontraproduktiv, räumen die Anti-ICE-Demonstranten freimütig ein. Die Regierung Trump suche nach einem Vorwand, die Nationalgarde in Chicago einzusetzen oder gar den Ausnahmezustand zu verhängen, sagt ein junger Mann, der sich Brian nennt. "Wir dürfen das nicht zulassen." Andererseits sei es schwierig, die Wut zu unterdrücken, die viele Menschen über den Präsidenten und seine Helfershelfer verspürten.
Will Trump in Chicago größtmögliche Panik erzeugen?
Ähnliche Töne schlägt JB Pritzker an, der Gouverneur des Bundesstaates Illinois und Widersacher von Trump. Er ermutige die Menschen, friedlich zu demonstrieren, sagt der Demokrat im Gespräch mit den SN. Denn er finde es "scheußlich" und "unverschämt", wie die Migrationspolizei oder das Grenzwachtkorps ganz normale Menschen schikanierten. "Das habe ich in den Vereinigten Staaten so noch nie erlebt", sagt Pritzker.
Die Bundesbehörden wiederum scheinen diese Emotionen gezielt zu schüren. Die ICE-Razzien in der drittgrößten US-Stadt (Codename: "Operation Midway Blitz") folgen keinem klaren Muster, als wolle Trump in Chicago größtmögliche Panik erzeugen. An einem Tag kann es Uber-Fahrer treffen, die auf einem Parkplatz beim Flughafen O'Hare auf den nächsten Auftrag warten.
Am nächsten Tag kreuzt ICE vor einer katholischen Kirche im Stadtviertel Rogers Park auf, in der viele Latinos die Messe feiern. Bisweilen greift die Migrationspolizei auch amerikanische Staatsbürger mit dunkler Hautfarbe oder spanischem Familiennamen auf - die dann mühselig belegen müssen, dass sie sich legal im Land aufhalten.
Auch Familien werden getrennt
Einen Unterschied zwischen Schwerverbrechern und fleißigen Familienvätern, zwischen gefährlichen Ausländern und harmlosen Nachbarn macht ICE dabei nicht. Es kann jeden treffen, wie ein Mann vor der ICE-Haftanstalt in Broadview erzählt. Seine Schwiegertochter sei am Montag in der Nähe ihres Arbeitsplatzes aufgegriffen worden - und habe bereits die notwendigen Papiere unterschrieben, um nach Mexiko ausgeschafft zu werden.
"Seit zehn Jahren war sie im Land", sagt der Mann, der sich als Carlos vorstellt und nur brüchig Amerikanisch spricht, über seine Schwiegertochter. Nun kehre sie wohl bereits am Mittwoch in ihre Heimat zurück, während ihr Gatte - sein Sohn - und das gemeinsame Kind in den USA bleiben wollten. "Das ist ihre Entscheidung", sagt der Mann und schluckt leer. Auf die Frage, wie es der Familie gehe, antwortet er: "Wir sind alle sehr besorgt."
Große Angst bei Kindern und Jugendlichen
So geht es vielen Latinos in Chicago. Marién Casillas Pabellón, die Chefin einer kleinen Menschenrechtsorganisation in der Agglomeration, greift auf die Wörter "bedroht" und "attackiert" zurück, um die Gefühlslage vieler Menschen zu beschreiben. Besonders betroffen seien Kinder und junge Erwachsene. Sie verspürten große Angst, dass ihre Eltern nicht mehr nach Hause zurückkehren würden, sagt die Aktivistin im Gespräch. Sie registriere auch, dass viele Menschen bereit seien, große Risiken auf sich zu nehmen, um die Gemeinschaft vor ICE zu schützen.
Zurück in Broadview: Der jungen Frau, die sich die Seele aus dem Leib geschrien hat, ist die Luft ausgegangen. Sie packt ihre Siebensachen und macht sich kurz vor Beginn des abendlichen Demonstrationsverbots aus dem Staub. "Faschisten" schreit sie noch einmal. Und eine Frau in ihrer Nähe zeigt den ICE-Agenten, die nach dem Ende ihrer Schicht das Gelände verlassen, den Stinkefinger.