Der US-Experte Reinhard Heinisch von der Universität Salzburg sieht im SN-Gespräch in der Entscheidung des US-Höchstgerichts über die Immunität des US-Präsidenten einen Wendepunkt.
Verändert die jüngste Entscheidung des US-Höchstgerichts, des Supreme Court, über die Immunität des Präsidenten das Machtgefüge in den USA stark zugunsten des Weißen Hauses? Reinhard Heinisch: Es ist jetzt nicht klar, wie die Macht des Präsidenten zu begrenzen ist. Richterin Sonia Sotomayor, eine der drei Höchstrichter, die gegen das Mehrheitsurteil gestimmt haben (sechs konservative Richter stimmten dafür, drei liberale dagegen, Anm.), sagt das klar und deutlich: Damit sei das System der checks and balances (Gewaltenteilung, Anm.) umgedreht worden. Nun sei plötzlich alles Staatsräson, was dem Präsidenten politisch hilft, auch dann, wenn diese Handlungen für andere Bürger ungesetzlich wären.
Können Sie das an einem Beispiel anschaulich machen? Aus heutiger Sicht wäre der Watergate-Skandal legal gewesen, weil Präsident Nixon ja nicht selber den Einbruch beging, sondern nur indirekt den Auftrag dazu gab (Männer mit Verbindungen zum Wahlkampfkomitee des republikanischen Präsidenten Richard Nixon drangen in das Hauptquartier der Demokraten im Watergate-Gebäude in Washington ein. Ziel war, illegal Informationen zu beschaffen und Abhörgeräte zu installieren. Nixon musste zurücktreten. Anm.). Es ist nicht klar, aus welchen Gründen man einen Präsidenten, der mit allen Mitteln im Amt bleiben möchte, anklagen könnte. Es ist auch nicht klar, was ist, wenn der Präsident nach einer Wahl sagt, er erkenne das Ergebnis nicht an, und entsprechend Druck auf Vizepräsident und Behörden ausübt.
Was hat sich mit diesem Urteil noch geändert? Bisher galt auch die "immunity from prosecution" während der Amtszeit des Präsidenten. Man konnte beispielsweise einen Präsidenten weder wegen eines verlustreichen militärischen Einsatzes verklagen noch ist es ein Geheimnisverrat, wenn der Präsident sensible Informationen weitergibt. Das war immer legal, dennoch darf ein Präsident auch im Amt keine "kriminellen Handlungen" begehen. Nur durften diese Fälle immer erst nach der Amtszeit verhandelt werden, entweder nach einem Amtsenthebungsverfahren oder nach Ende der Amtszeit. Deswegen wurde ja Nixon auch von seinem Nachfolger begnadigt. Nun wurde das, was der Präsident tun darf, viel stärker ausgeweitet, darunter fallen auch Handlungen, die, wenn sie andere begingen, kriminell wären. Nach der US-Verfassung war der Präsident zwischen einem gewählten Monarchen und einem ersten Staatsdiener, einem europäischen Regierungschef ähnlich, angesiedelt. Nach dieser oberstgerichtlichen Entscheidung ist der Präsident eindeutig mehr ein gewählter König als ein erster Staatsdiener.
Wie verändert das die Staatsordnung? Die US-Verfassung ist extrem kurz und der Passus (Artikel II), der Rechte, Pflichten und Amtsführung des Präsidenten betrifft, ist knapp drei Seiten lang. Das meiste, das wir mit dem Amtsverständnis des US-Präsidenten heute assoziieren, ist der Auslegung und gelebten Amtsführungen bisheriger Präsidenten geschuldet, aber verfassungsrechtlich nicht eindeutig geregelt worden. Beispiel eins: Der Justizminister untersteht zwar dem Präsidenten, hatte jedoch ihm gegenüber bisher eine gewisse Unabhängigkeit und eine Art Sonderstellung. Der Justizminister, der auch eine Kontrollfunktion hatte, ist keine neutrale Stelle mehr, sondern quasi der Erfüllungsgehilfe des Präsidenten, weil man nun wohl immer wird argumentieren können, dass es dem Präsidenten politisch schadet, wenn er von der Justiz verfolgt würde. Nächstes Beispiel: Ich bin mir sicher, dass sich Präsidenten nun auch selbst werden begnadigen können - warum nicht?
Schien nicht das Urteil auf den ersten Blick viel weniger weitreichend? Früher waren einige Dinge unklar, die jetzt geklärt wurden, indem man den Präsidenten mit einer für ein demokratisches System ungewöhnlichen Machtfülle ausgestattet hat. Gleichzeitig wurden neue Unklarheiten geschaffen. Jetzt hat das Gericht gesagt, alle Handlungen, die der Präsident nicht nur offiziell setzt, sondern die ihm und seiner Agenda auch politisch nützen, sind legal, auch wenn diese für andere ungesetzlich sind, solange sie politisch begründbar sind. Wenn etwa der Präsident mit allen Mitteln die Stimmauszählung sabotiert oder Druck auf Amtsträger ausübt, ein Wahlergebnis nicht zu bestätigen. Jetzt gilt das politische Interesse des Präsidenten als Maßstab. Die große Frage dabei ist: Wo hört die politische Agenda des US-Präsidenten auf und wo fängt etwa jene der Privatperson und des Parteikandidaten an? Das ist die neue Unsicherheit, die entstanden ist.
Ist es Trump gelungen, einen ihm gefügigen Supreme Court zu installieren? Nicht nur gefügig, würde ich sagen. Es ist nicht nur das konservativste Gericht in 90 Jahren, sondern ein Supreme Court, der Trump persönlich in weiten Bereichen entgegenkommt. Man hat auch die Entscheidung über die Immunität des Präsidenten so lange hinausgezögert, dass sich vor den Wahlen im November in den Gerichtsverfahren gegen Trump nicht viel tun wird.
Wie weit rüttelt das am bisherigen Demokratieverständnis in den USA? Es ist ein massiver Eingriff in das Grundverständnis zwischen der Macht des Präsidenten, der Exekutive und den anderen Institutionen, der alles über den Haufen wirft, indem bisher immer galt, dass auch der Präsident nicht über dem Gesetz stehe. Nun ist der Präsident quasi eine Institution mit einem eigenen politischen Willen, der jedoch nur von einer Person bestimmt wird, der nur die Grenzen des Kongresses in Form einer Amtsenthebung (Impeachment, Anm.) gesetzt sind.
Und da hat man jetzt plötzlich eine extrem starke Präsidentschaft, die quasi unbegrenzt ist. Wo sind nun die Grenzen? Früher war das Impeachment-Verfahren insofern effektiv, als es die reale Möglichkeit gab, dass man über die Parteigrenzen hinweg gewisse Spielregeln einhalten muss. Es gab nicht die extreme parteipolitische Polarisierung. Da war die Loyalität gegenüber den Institutionen des Staates, wie dem Kongress, so groß, dass Präsident Nixon im Watergate-Fall vor einem Impeachment-Verfahren stand und die Republikaner zu ihrem Präsidenten sagten: Wir werden gegen dich stimmen. Besser, du trittst zurück (was Nixon auch tat, Anm.). Das war in einer Zeit, als sich die Mehrheit der US-Politik in der Mitte abspielte. Aber in der nun polarisierten Situation, in der viele Menschen von Waffengewalt sprechen, ist es naiv zu glauben, dass es etwas geben könnte, wo einer gegen die Parteiräson verstoßen würde. Der ist sich in der Zeit der Ächtung auch über soziale Medien seines Lebens nicht mehr sicher.
Wie stark könnte nach diesem Urteil des Supreme Court die Demokratie in den USA ausgehöhlt werden, wenn Trump an die Macht kommt? In einer Situation, in der die Gesellschaft so polarisiert ist und so viel auf dem Spiel steht, ist die Versuchung groß, alles zu machen, um an der Macht zu bleiben. Wenn hier keine wirklich klaren Grenzen gesetzt sind, ist der Druck der Parteibasis schon so groß, alles auszunützen, was möglich ist. Wer will diesem Druck widerstehen?
Die Idee, dass alle Supermenschen sind, die über ihren eigenen Schatten springen und sich politisch nicht in Versuchung führen lassen und sich selbst in ihrer Macht beschränken, ist eine sehr naive Vorstellung. Trump hat gezeigt, dass er bereit ist, alles bis zum Exzess auszunützen. Bis zuletzt gab es klare Grenzen. Also man ging zumindest von klaren Grenzen aus, die man nun im Fall Trump einklagen wollte, um sie noch einmal deutlich zu machen. Die Rechtsprechung zeigt aber plötzlich, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Das ist ein besonders großes Problem.