In seiner Lehrzeit auf dem Bau nahm alles seinen unheilvollen Anfang. "Da ist früher prinzipiell nur Bier herumgestanden. Und dann trinkst du gedankenlos dahin", erinnert sich der 61-Jährige. Nach einiger Zeit trank er 10 bis 15 Halbe Bier am Tag. "Irgendwann brauchst du den Alkohol schon in der Früh, um überhaupt zu funktionieren." Ehefrau Anni erinnert sich, wie viel ihr Mann in jenen Jahren geschlafen hat. Sie selbst hat viel geweint. Dennoch redete sie das Problem klein - vor sich selbst und anderen. "Ich habe Ausreden gesucht und gelogen", gesteht sie.
Solange, bis der Hausarzt Tacheles redete. "Anni, dein Mann braucht Hilfe!", hat er zu ihr gesagt. Und zu ihm, dass er nur noch acht bis zehn Jahre zu leben habe, wenn er so weitersaufe. Dabei war Hans Niederwinkler damals gerade 38 Jahre alt.
Bis er die Notbremse zog, vergingen trotzdem noch ein paar Jahre. Den Ausschlag gab ein enger Jugendfreund, der selbst einen Alkoholentzug hinter sich hatte. Annis Schwester hatte ihn gebeten, mit Hans zu sprechen. "Ich habe es ja selber gemerkt, dass ich zu viel trinke - aber da ist es schon zu spät gewesen", denkt der trockene Alkoholiker zurück.
Der Freund brachte ihn nicht nur zur Besinnung, sondern zeigte ihm auch den Weg heraus aus der Sucht auf. Gemeinsam fuhren die Männer wenige Wochen nach ihrem Gespräch in eine Fachklinik nach Frankfurt am Main, die auf die Behandlung von Suchterkrankungen spezialisiert ist, und vereinbarten einen Termin für einen Aufenthalt.
"Es war eine Erlösung, als ich zur Entgiftung konnte"
Hans Niederwinkler erinnert sich, dass er große Angst vor einem sogenannten kalten Entzug hatte: dem unbegleiteten, nicht medikamentös unterstützten Alkoholentzug, der in der Tat unnötige Risiken birgt. "Ich wusste nicht, wie mein Körper reagiert, wenn ich den Alkohol weglasse." Darum machte der Fridolfinger einen sogenannten warmen Entzug, der medizinisch-therapeutisch begleitet und medikamentös unterstützt ist.
"Es war eine Erlösung, als ich zur Entgiftung ins Krankenhaus nach Freilassing gehen konnte", erinnert er sich. "Nicht nur der Gedanke ans Saufen, sondern auch die Angst war weg - weil ich wusste, dass sie dort auf mich aufpassen werden." Zehn Tage dauerte der Alkoholentzug. Hans Niederwinkler verkraftete ihn gut. Danach ging es für drei Monate nach Frankfurt zur Therapie. "Es war eine gute Zeit", sagt er heute. Sie war gefüllt mit Therapie-Sitzungen - allein und in der Gruppe - und allerlei Beschäftigungen. "Schwimmen, Qi Gong, Schreinern... - ich habe überall mal mitgemacht." Der Klinik blieb er lange Zeit verbunden, reiste über zehn Jahre zu den "Ehemaligentreffen".
Jeden Montag trifft er sich mit anderen Betroffenen
Als der Fridolfinger fünf Jahre trocken war, belohnte er sich selbst mit einem Ford Mustang - von dem roten Flitzer hatte er schon als Kind geträumt. Heuer im November wird er seit 20 Jahren keinen Alkohol mehr angerührt haben. Angst, rückfällig zu werden, hat er nicht. Selbst als er noch während der Therapie bei einem Heimatbesuch seine Freunde am Stammtisch besuchte, kam er nicht in Versuchung.
Wie er so konsequent bleiben kann? Hans Niederwinkler hält die Erinnerung an die Jahre voller Alkohol bewusst wach. Woche für Woche. Seit seiner Rückkehr aus Frankfurt nimmt er jeden Montagabend am Treffen der Kreuzbund-Gruppe für Alkoholiker im katholischen Pfarrheim in Laufen teil; viele Jahre war er Sprecher der Gruppe. "Für mich sind die Treffen wichtig, damit mein Kopf wach bleibt."
"Ich wäre nicht 61 geworden, wenn ich das Trinken nicht gelassen hätte"
Der Fridolfinger hat in den vergangenen Jahren viele andere scheitern sehen - "ungefähr 50 Prozent", schätzt er. Er weiß, dass es laut Statistik nur ein Drittel schafft, die Finger dauerhaft vom Alkohol zu lassen. Hans Niederwinkler glaubt: "Wenn du nicht wirklich bereit bist, etwas zu ändern, dann bist du machtlos."
Er selbst geht seit seinem Entzug offen mit seiner Alkoholsucht um. "Ich stehe komplett dazu", sagt er. So ist er für viele ein Vorbild. Wiederholt klopften Menschen an seine Tür, die dem Alkohol verfallen sind. Wo er helfen kann, hilft er.
"Ich wäre nicht 61 Jahre alt geworden, wenn ich das Trinken nicht gelassen hätte", weiß Hans Niederwinkler, der bis heute auf dem Bau arbeitet. Das Leben mit und ohne Alkohol - das sei "ein Unterschied wie Tag und Nacht", sagt Ehefrau Anni. "Wir haben es geschafft", freut sie sich. "Und genau so wie in den letzten 20 Jahren machen wir weiter", ergänzt ihr Mann.
Hilfe erhalten Betroffene unter anderem die Fachambulanzen für Suchterkrankungen der Caritas in Traunstein, Telefon 0861/ 988 77 400, und Bad Reichenhall, Telefon 08651/95 85 11.