Wenn irgendwo auf der Welt, sagen wir in China, ein Radl umfällt, machen wir uns sofort Gedanken, warum das so ist. Auch wenn wir uns sprichwörtlich einreden, dass uns das wurscht ist, beginnt ein Teil in unserem Gehirn zu rattern, warum das Radl eigentlich umgefallen ist. Und was das für die Weltwirtschaft, die internationalen Beziehungen und auch für uns für Folgen hat. Wesentlich interessanter als das umgefallene Radl ist aber, warum wir uns darüber überhaupt Gedanken machen.
Darüber denken wir wesentlich weniger nach als über das chinesische Radl. Denn sonst wüssten wir, dass sich unser Hirn evolutionär durchsetzte, indem es zu einer perfekten Interpretationsmaschine wurde. Das Hirn des Homo sapiens musste effizient lückenhafte Informationen durch Interpretation schließen, um blitzschnell vorhersagen zu können, ob im Wald ein Mammut oder ein Säbelzahntiger wartet.
1780 und 1612? Legendär!
Außerdem merkt sich das Gehirn jene Informationen besser, die mit einer Geschichte verknüpft sind. Alle, die bei den Zahlen 1780 oder 1612 sofort an legendäre Nächte denken, wissen, was ich meine. Aber auch alle anderen, die nicht die Jahreszahl der Gründung ihrer Lieblingsbrauerei auswendig wissen, hatten vermutlich gerade eine eigene Vermutung, was die Zahlen wohl bedeuten.
Das Problem dabei ist, dass unser Gehirn Informationslücken ziemlich selbstbewusst ignoriert. KI-Chatbots wie ChatGPT arbeiten übrigens ähnlich. Das erklärt, warum Menschen auch in Bereichen, die sie nicht studiert haben, völlig überzeugt sind, sofort nobelpreisverdächtige Aussagen treffen zu können.
83 Millionen Bundestrainer und Virologen
Wir erinnern uns an 83 Millionen Bundestrainer und ähnlich viele Virologen in den letzten Jahren. Und einige von ihnen vertrauen ihrer steinzeitlichen Hirn-Interpretation, dass "die da oben" von Politik ja keine Ahnung haben und nur Schmarrn machen. Tatsächlich aber sagen Meinungen wie diese in der Regel mehr über den Schimpfenden aus als über den tatsächlichen Stand der Politik. Es ist wirklich faszinierend, wie bei den großen Themen wie Klimawandel, Zuwanderung oder Lieblingsbier dieselbe Faktenlage total unterschiedlich interpretiert wird.
Was also tun? In einer Zeit, in der Fakten zu Meinungen werden und es zu jeder wissenschaftlich gesicherten Tatsache dann doch diesen und jenen vermeintlich gesunden Menschenverstand gibt, der das Gegenteil behauptet, sollten wir uns daran erinnern, dass unser Hirn vergleichsweise wenig weiß. Und es immer auf die bessere Geschichte hereinfallen wird. Vielleicht auch auf diese?
Bernhard Strasser ist Schriftsteller und lebt in Traunstein.