"Ich glaube, Eugen hat sich an der Kralle verletzt." Christine Klein ist besorgt, als sie die Räume der Igelfreunde Chiemgau an der Bahnhofstraße 1 in Tyrlaching (Landkreis Altötting) betritt. Sophia Strauss streift sich Hygienehandschuhe über, schnappt sich ein frisches Handtuch und nimmt den Igel in ihre Hände. Schnell gibt sie Entwarnung: "Ich sehe keine Verletzung. Es ist alles in Ordnung."
Eugen - in der Station hat, schon fürs Protokoll, jeder Igel einen Namen - ist vor ein paar Wochen von einem streunenden Hund schwer verletzt worden. Nach einem Tierarztbesuch sowie Aufenthalten bei der Intensiv-Igelpflege in Töging am Inn (Landkreis AÖ) und in der Station der Igelfreunde Chiemgau sind die Wunden endlich verheilt. Dank Christine Klein ist das Stacheltier jetzt auch wohlgenährt. Die 60-Jährige aus Asten bei Tittmoning hatte den Igel zwei Wochen lang bei sich zu Hause, um ihn weiter aufzupäppeln.
Heute fährt sie ohne Eugen heim. In zwei Tagen wird er von der Igelstation in Tyrlaching in den Garten einer Familie in Altötting übersiedeln. Die Anforderungen an das neue Zuhause sind hoch: "Jeden Tag Futter, kein unerzogener Hund, keine vielbefahrene Straße, kein Mähroboter oder Rasentrimmer", zählt Sophia Strauss auf. Die Vereinsvorsitzende tut sich immer schwerer, einen geeigneten Lebensraum für ihre stacheligen Schützlinge zu finden.
Igel sind Gefahren wie Mährobotern Autos und bissigen Hunden ausgesetzt
Und so geht es auch den Tieren selbst, bevor sie in der Igelstation landen. Die Igel sind unterernährt, weil sie zu wenig Insekten zum Fressen finden. Sie sind von Innen- und Außenparasiten befallen. Sie sind andauernd Gefahren wie Mährobotern und Rasentrimmern, Autos und bissigen Hunden ausgesetzt. Darum ist die Igelpopulation stark rückläufig. Schätzungen zufolge hat sich die Zahl der Stacheltiere in Bayern in den vergangenen zehn Jahren um mindestens 50 Prozent verringert. 2024 landete der Igel erstmals auf der Liste der bedrohten Arten.
Sophia Strauss tut, was sie kann, um den Tieren zu helfen. Im Frühjahr 2023 gründete sie den Verein Igelfreunde Chiemgau. Sie kümmert sich täglich mehrere Stunden um kranke und verletzte Tiere - aus ehrlicher Sorge und nicht, weil sie sonst nichts zu tun hätte. Das ist mitnichten so. Die 34-jährige Humanmedizinerin betreibt eine Arztpraxis in Tyrlaching. Doch wann immer es ihre Zeit zulässt, versorgt sie zusätzlich zu ihren menschlichen Patientinnen und Patienten auch Igel - manchmal bis nach Mitternacht.
Das Leid der Tiere nimmt die Ärztin mit: "Die Igel, die bei uns landen, sehen armselig aus. Ich kenne kaum ein Wildtier, dem es so schlecht geht." Von Jahr zu Jahr werde es schlimmer. Im vergangenen Jahr haben die Igelfreunde Chiemgau fast 400 Igel versorgt, heuer sind es schon deutlich über 100. "Der richtige Ansturm beginnt jetzt, weil gerade der Igelnachwuchs auf die Welt kommt. Er landet oft unterernährt bei uns."
In Spitzenzeiten sind bis zu 80 Igel in der Station
Sophia Strauss ist gewappnet. "Ich kämpfe um jeden einzelnen Igel", sagt sie. In Spitzenzeiten versorgen sie und ihre Mitstreiterinnen zeitgleich bis zu 80 Igel. Sie füttern und wiegen die Tiere, entfernen Milben, versorgen Wunden… Aktuell klingelt das Igelhandy täglich - auch um 22 Uhr abends, auch am Wochenende. Einmal gingen 15 Anrufe an nur einem einzigen Tag ein. Freizeit gibt es da kaum noch.
Die Helferinnen bringen die Igel erst zum Tierarzt und versorgen sie dann in der Station in Tyrlaching weiter. Tiere, die wieder gesund sind und nur noch aufgepäppelt gehören, kommen vorübergehend in private Pflegestellen wie die von Christine Klein - "ohne sie wären wir aufgeschmissen", sagt die Vereinsvorsitzende.
Bis auf zwei Minijobberinnen, die die Igelfreunde seit Kurzem beschäftigen, weil die Arbeit sonst nicht mehr zu leisten wäre, arbeiten alle ehrenamtlich. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich über private Spenden sowie dank der Unterstützung der Bielefelder Stiftung Pro Artenvielfalt. "Staatliche Hilfe bekommen wir trotz wiederholter Anfragen bislang keine", stellt die Tyrlachingerin traurig fest. Dabei werden allein heuer Kosten von rund 45.000 Euro anfallen.
Igelfreunde sind auf der Suche nach Unterstützung
"Da es kaum noch Igelstationen in der Region gibt, laufen wir eigentlich immer absolut am Limit mit unserer Station", sagt Sophia Strauss. Um den vielen hilfsbedürftigen Igeln weiterhin helfen zu können, sind die Igelfreunde Chiemgau immer auf der Suche nach Unterstützung: nach Ehrenamtlichen, die in der Station mithelfen oder privat Igel aufnehmen, um sie aufzupäppeln, nach Tierfreunden, die Igeln in ihrem Garten ein neues Zuhause geben, und vor allem auch nach Spendern, die die Arbeit des Vereins finanziell unterstützen.
Wer die Igelfreunde Chiemgau unterstützen will, schreibt eine WhatsApp-Nachricht an Telefon 0156/79 566 003. Wer kranke oder verletzte Igel melden will, wählt Telefon 0156/79 566 000 und hinterlässt gegebenenfalls eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Wann braucht ein Igel Hilfe?
Bei Igeln, die eine Verletzung haben, Iiegt es auf der Hand, dass sie Hilfe brauchen. Doch was ist mit den anderen Tieren, die uns auffallen? "Igel, die am Tag herumlaufen, sind in der Regel hilfsbedürftig, also unterernährt oder von Parasiten befallen. Sie gehören schnellstmöglich eingesammelt und dann unverzüglich weiter in professionelle Hände gegeben", sagt Sophia Strauss von den Igelfreunden Chiemgau.
Informationen zur Erstversorgung von Igeln gibt es unter anderem auf der Internetseite des Vereins. Sandra Schwaiger-Pöllner