Der Flächenverbrauch sei eines der dringendsten Themen bei ihnen in Kirchanschöring, sagt Hans-Jörg Birner. Er ist der Bürgermeister der Gemeinde, hat aber noch viel mehr Aufgaben: Er ist ebenso Vorsitzender Integrierten Ländlichen Entwicklung (ILE) der Region Waginger See-Rupertiwinkel. Damit ist er auch für das Pilotprojekt "digitales Alpendorf" zuständig.
Sieben Gemeinden sind in diesem digitalen Alpendorf vereint, das vom Land Bayern gefördert wird. 100.000 Euro jährlich erhalten die sieben Kommunen, plus ein Budget von zwei Millionen Euro für die Hochschule Deggendorf, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. "Für uns ist das ein großer Wurf gewesen", sagt Birner. Kirchanschöring, Tittmoning, Waging am See, Taching am See, Wonneberg, Fridolfing und Petting haben sich gemeinsam für die Förderung beworben. Sie sind das dritte sogenannte Pionierdorf, das es in Bayern gibt, neben der Steinwald-Allianz in der Oberpfalz und Spiegelau-Frauenau in Niederbayern.
In den zwei Jahren des Projekts hat Birner viel vor. Start war der Jänner diesen Jahres. Ganz oben auf seiner To-do-Liste steht die Wohnungsnot: "Durch die Nähe zu Salzburg und den starken Mittelstand sind wir ganz klar eine Zuzugsregion." Die Gemeinden versuchen deshalb wegzukommen von Einfamilienhäusern im Grünen, der Flächenverbrauch sei einfach zu groß.
Ein Portal solle die Situation verbessern: Neben Informationen zu kommunalen Förderprogrammen und nachhaltigem Bauen soll es auch eine Art Verkupplungs-Website sein. "Auf dem Portal sollen sich Baugruppen finden", sagt Birner. Menschen, die eine Zweizimmerwohnung mit Balkon brauchen, sollen mit Interessenten für eine Dachgeschoßwohnung oder Käufern einer Gartenwohnung zusammenfinden. Ein Architekt entwickelt dann intelligente Grundrisse, damit alle zufrieden sind und der Bau starten kann. "Wir wollen die Scheu vor Baugruppen nehmen und zeigen, wie das funktioniert", sagt Birner.
Ländliche Regionen fallen im Vergleich zum urbanen Raum immer weiter zurück. In den Städten explodieren die Mietpreise, die Stickstoffbelastung ist hoch, während die Dörfer überaltern. Das Ziel der Pionierdörfer sei es deshalb, dass Land und Stadt sich die Waage hielten, sagt Diane Ahrens. Sie ist Forscherin an der Technischen Hochschule Deggendorf und betreut die Projekte. Die digitalen Dörfer könnte man als lebende Labors bezeichnen. "Uns geht es dabei nicht primär um Innovation - das meiste gibt es schon." Oft krankte es bisher aber an der Umsetzung der Ideen und am Übertragen des Wissens: "Die Modelldörfer sollen als Best Practice für vergleichbare Regionen dienen. "
Bürgermeister Birner findet Breitbandausbau freilich super. Aber die Bürger müssten auch wissen, was ihnen das bringe. Deshalb sind die Einwohner der Region von Anfang an in den Arbeitsgruppen eingebunden, die die Projekte entwickeln.
Neben der Wohnungsnot steht das Alpendorf vor weiteren Herausforderungen: einer massiven Verschiebung innerhalb der Bevölkerungsstruktur etwa. Bis 2030 wird die Region um ein Drittel mehr Einwohner haben, die zwischen 65 und 80 Jahre alt sind. Bei den über 80-Jährigen betrage der Zuwachs sogar mehr als 40 Prozent, sagt Birner. Angehörige würden oft davon überrascht, dass ihre Eltern pflegebedürftig würden. Der digitale Pflegekompass helfe hier: "Es ist eine Anlaufstelle für Betroffene, was die Angebote, wer die Ansprechpartner sind", sagt Birner. Zudem sollen auch Ehrenamtliche und Gemeindebeauftragte Informationen finden.
Der Bürgermeister will jedoch nicht nur neue Bewohner in die Region locken - sondern auch Touristen. Kräuterwanderungen, Fischen und andere Naturangebote sollen auf einer Website buchbar werden. Zudem können sich Biobauern auf einer weiteren Plattform präsentieren.
Birner will fleißig sein in den kommenden zwei Jahren. Denn wenn die Region viel vorzuweisen habe, werde das Projekt verlängert. Ahrens von der Uni Deggendorf hofft auch auf Erfolge. "Es ist spannend, keine Insellösungen zu entwickeln, sondern alles geballt in einem Modelldorf anzuwenden." Mit den Erkenntnissen will sie dann andere Regionen in Deutschland beraten. Auch mit Oberösterreich, Tirol und Salzburg sei sie bereits in Kontakt: "Wir tauschen uns eng aus. Die Herausforderungen sind ähnlich."




