VON RICHARD OBERNDORFER
AUS NISCHNI TAGIL
Die Ruhe auf dem Sprungturm kurz vor der rasenden Abfahrt über die riesige Schanze in Nischni Tagil ist fast gespenstisch. Es geht um die Materialkontrolle, bevor die Athleten überhaupt in den Ablauf dürfen. Sepp Gratzer, seit 15 Jahren in Diensten des Internationalen Skiverbands FIS, ist der Herrscher über Anzug, Ski, Bindung. Wenn er den Daumen nach oben hält, dann darf gesprungen werden. "Das ist einfach wichtig, um die Fairness unter allen Springern zu gewährleisten", sagt der 62-Jährige. Denn viele Springer würden das Reglement bis zum letzten Millimeter ausreizen. "Das wunderT mich immer, denn da müssen sie bei der Kontrolle zittern und sollen wenige Augenblicke danach konzentriert springen? Das zahlt sich nicht aus", wundert sich der Kärntner.
Keine Materialveränderung außerhalb des Reglements entgeht Gratzer. Sein Blick ist streng, seine Kontrolle mit seinem Anzug- und Schuhmessgerät in einer eigens aufgestellten Box ist präzise. Seine Worte eindringlich. "Steh normal. Schulter nicht nach oben. So stehst du niemals im richtigen Leben. Okay, du darfst springen. Beim nächsten Mal schicke ich Dich nach oben."
Das "nach oben" ist die Höchststrafe für einen Skispringer. Dann muss er die Schanze verlassen und darf nicht "nach unten" in die Anlaufspur. "Ich merke sofort, wenn einer tricksen will", sagt der gelernte Zöllner, der sich von seinem Dienst für die FIS freistellen ließ. Zuerst werde zwar jeder Athlet erst einmal verwarnt, in der Startliste wird ein entsprechender Vermerk eingetragen, "beim zweiten Mal ist es vorbei." Einige Athleten würden vergessen, dass die Materialvorgaben zu ihrer Sicherheit gemacht worden seien.
Deshalb ist die Anspannung jedem Springer anzumerken. Auch anzusehen. Ohne Ausnahme. Der Fuß zittert beim Anstellen auf das Messgerät, die Hände umklammern den Griff, um ja den Anzug in die richtige Position zu bringen. Aber die Skispringer haben gelernt, mit diesem letzten Check umzugehen. "Je höher die Nummern, desto schneller gehen die Kontrollen", sagt Gratzer. Will heißen: Die Topspringer nehmen das Reglement beim Material sehr ernst. "Ganz klar, sie haben in ihrer Stellung etwas gegen Vorteile für die Konkurrenz", erklärt der Herrscher über das Materialreglement. Es sei sogar schon vorgekommen, dass gute Springer - und er nennt keine Namen - jene verpfiffen hätten, die unrechtmäßig am Material herumgedoktert hätten. "Viele glauben, dass sie mit einem veränderten Material einen Vorteil haben, aber das meiste spielt sich im Kopf ab. Es ist noch lange nicht gesagt, dass die Springer mit einem veränderten Anzug nur einen Zentimeter weiter springen", weiß der erfahrene Kontrolleur.
Sepp Gratzer ist unter den Skispringern gleichermachen gefürchtet, wie anerkannt. Disqualifikationen sind aber nicht seine Sache. "Das ist insgesamt schlecht für unseren Sport". Wie vor gut einer Woche beim Teamspringen in Kuusamo, als der Pole Piotr Zyla wegen eines nicht regelkonformen Anzugs vom Turm geholt werden musste. "Das war richtig so, aber natürlich doppelt bitter, weil es gleich die gesamte polnische Mannschaft betroffen hat", erzählt Gratzer. Aber er komme im Grunde mit allen Springern gut aus. Das merkt man eindringlich bei der letzten Kontrolle auf dem Turm: Artig stellen sich alle an, nach der Materialkontrolle gibt es mehr als einmal ein erleichtertes "Danke". Der zweifache Doppel-Olympiasieger Simon Ammann verwickelt Gratzer sogar in ein Gespräch und erkundigt sich, ob der Anzug so passt. Gratzer nickt, Ammann ist erleichtert, faste demütig: "Man will ja nichts riskieren".
Wie lange wird der oberste Materialhüter der Skispringer noch im Amt bleiben? "Zur Zeit macht mir die Arbeit noch Spaß, aber wenn mein Kärntner Landsmann Walter Hofer als FIS-Renndirektor in gut zweieinhalb Jahren aufhört, dann ist wohl auch meine Zeit gekommen", kündigt Gratzer an. Damit ist ein Original im Skisprung-Weltcup Geschichte.