Erasmus Gerhard Reichel-Dolmatoff

Erasmus Gerhard Reichel-Dolmatoff, später Gerardo Reichel-Dolmatoff (* 6. März 1912 in der Stadt Salzburg; † 17. Mai 1994 in Bogotá, Kolumbien), war ein Anthropologe.
Leben (Auszug)
Reichel war der Sohn des Malers Carl Anton Reichel und dessen Ehefrau Hilde Konstanze Dolmatoff. Er wurde im Schloss Arenberg geboren und hatte hier seine ersten Jahre verbracht. Seine Kindheit verbrachte er im so genannten Edelhof in Micheldorf im oberösterreichischen Kremstal. Er besuchte das Gymnasium im Benediktinerstift Kremsmünster, Linz und Wien. Am 9. September 1931 trat er der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 610.232).[1] Außerdem war er 1932 bis 1935 Mitglied der SS. Anschließend studierte er an der Akademie der Bildenden Künste München und ab 1937 an der École du Louvre sowie der Faculté des Lettres der Sorbonne in Paris.
Im Jahr 1939 wanderte Reichel nach Kolumbien aus, dort änderte er seinen Namen in Gerardo Reichel-Dolmatoff. Er nahm 1941 an der ersten ethnologischen Feldstudie teil. Er forschte fast 30 Jahre bei den Tucano-Indianern in Nordwest-Amazonien (Kolumbien).
Hintergründe zur Gedenktafel
In Salzburg erinnert eine Gedenktafel an der Fassade des Hauses Arenbergstraße 27 an ihn. "Hier wurde der bekannte österreichisch-kolumbianische Anthropologe Gerardo Reichel-Dolmatoff am 6. März 1912 geboren", heißt es da. Im Jahr 2010 wurde diese Gedenktafel von Bewunderern des Forschers finanziert und angebracht. Weder die damaligen noch die heutigen Hausbesitzer wussten mehr über die Person, die dort geehrt wird. Schon gar nicht, dass dieser Mann als Erasmus Reichel geboren wurde und im Juni 1934 als Auftragsmörder in der "Nacht der langen Messer" beteiligt war, als sich die Gestapo und die nationalsozialistische Schutzstaffel (SS) der Sturmabteilung (SA) entledigte.
Historiker Robert Obermair hat sich für das neue Buch "Erinnern - Stadt - Vergessen" auf Spurensuche begeben. Mit Historiker-Kollegen Bernadette Edtmaier, Kay-Michael Dankl (KPÖ-Vizebürgermeister der Stadt Salzburg) und Christoph Würflinger (KPÖ-Sprecher) hat er in dem Buch 100 Gedenkorte zur NS-Geschichte in Salzburg zusammengetragen. Darin wird die Geschichte hinter dieser Tafel geschildert:
Erasmus Reichel war frühes NSDAP-Mitglied und ging als Überläufer 1934 nach München, zuerst zur SA, dann zur SS. Er wird in Zeitungsberichten auch als "Hitlers Leibwächter" bezeichnet, zudem war er KZ-Ausbilder. Im Jahr 1937 erscheint ein Artikel in der Zeitschrift "Die Dritte Front" mit dem Titel "Geständnisse eines Gestapo-Mörders". Darin beschreibt Reichel, wie er im Juni 1934 in München SA-Männer in ihren Wohnungen exekutierte, teils vor den Augen ihrer Kinder.
"Reichel hatte dann mit psychischen Problemen zu kämpfen", sagt Obermair. "Im Jahr 1939 wanderte er nach Kolumbien aus und startete unter dem Namen Gerardo Reichel-Dolmatoff nach 1945 eine glänzende Karriere in der Wissenschaft." Er gilt in Kolumbien als Gründervater der Anthropologie und war bekannt für seine Forschungen zu indigenen Völkern. Er erhielt das Verdienstkreuz der Republik Österreich. 1994 starb er in Bogotá.
Als im Jahr 2012 durch den Anthropologen Augusto Oyuela-Caycedo bei einem Kongress in Wien erstmals Reichels NS-Verstrickungen öffentlich wurden, war das ein Schock in dem Forscherkreis. "Doch bis heute ist seine düstere Vergangenheit in Salzburg nicht bekannt", sagt Obermair. Wie nun umgehen mit dieser Tafel in Salzburg? Der Historiker schlägt eine künstlerische Auseinandersetzung vor, die die NS-Geschichte aufgreift, anstatt die Tafel abzumontieren oder ohne Kontext dort zu belassen.
Aufgekommen war die Geschichte deshalb, weil ein entfernter Nachfahre - der Künstler Friedemann Derschmidt - die NS-Vergangenheit seiner Familie erforschte. "Ich dachte, wenigstens einer in der Familie war kein Nazi - denn er war ja ins Ausland geflohen. Dann legte meine Großtante die ‚Geständnisse eines Gestapo-Mörders' auf den Tisch." Der gebürtige Salzburger beschreibt den Inhalt der Lektüre als "grauslich". Damit habe er nicht gerechnet. "Reichel war ein Nazi, der im Auftrag von Nazis Nazis getötet hat - tagelang." Derschmidt bezweifelt, dass Reichel in seinem "zweiten Leben" eine Läuterung erfahren hat. "Es gab Studierende in den 1970er-Jahren, die Kritik übten an seinen Forschungen, dass diese von der Rassenhygiene geprägt seien." Es gebe aber keine Hinweise darüber, dass er sich nach 1945 zu seiner NS-Vergangenheit geäußert habe, sagt Derschmidt.
Der Künstler hat seine Forschungen unter dem Titel "Reichel-Komplex" online und als Buch ("Sag du es deinem Kinde", Löcker-Verlag) veröffentlicht - und seiner Tochter gewidmet.
Als Überbringer schlechter Nachrichten in der Familie sei es nicht immer leicht für ihn gewesen, erzählt er. "Nicht alle Verwandten waren aufgeschlossen. Am Ende haben aber viele gesehen, dass es gar nicht so wehgetan hat." Es gehe ihm nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Verantwortung für die Gegenwart. Und er fragt: "Wer garantiert, dass so etwas nicht wieder passiert? Und ist es wirklich je zu Ende gegangen?"
Podcast "Schattenorte
- www.sn.at/podcasts/schattenorte "Geständnisse eines Gestapo-Mörders" aus Salzburg - die unfassbare Geschichte von Erasmus Reichel"
Quellen
- www.sn.at, 26. April 2025: "Bekannter Salzburger Forscher war Auftragsmörder für Hitler - die unfassbare Geschichte von Erasmus Reichel", ein Beitrag von Simona Pinwinkler
- Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia zum Thema "Erasmus Gerhard Reichel-Dolmatoff"