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Auswandererkolonie: Palmenland Tirol

Dreizehnlinden: Alpine Lebensart in Brasilien. Im Süden des Tropenlandes liegt ein nostalgisches Stück Österreich.

In Dreizehnlinden steht ein Tiroler Bauernpaar symbolträchtig auf dem Platz.
In Dreizehnlinden steht ein Tiroler Bauernpaar symbolträchtig auf dem Platz.
Conrado Michael Moser stolz vor seiner Pension, der Hospedaria San Michael.
Conrado Michael Moser stolz vor seiner Pension, der Hospedaria San Michael.
Aus feinem Zedernholz schnitzt Ingrid Thaler ihre Figuren.
Aus feinem Zedernholz schnitzt Ingrid Thaler ihre Figuren.
Koloniegründer Andreas Thaler hebt vor der Kirche grüßend die Hand.
Koloniegründer Andreas Thaler hebt vor der Kirche grüßend die Hand.
Fast wie daheim: Geschmückte Kühe beim jährlichen Tirolerfest.
Fast wie daheim: Geschmückte Kühe beim jährlichen Tirolerfest.

Brasilien, das sind Copacabana, Amazonas und Iguazú-Wasserfälle - und ein Stück Tirol. Denn im Bundesstaat Santa Catarina im Süden des südamerikanischen Landes liegt ein Stück alpenländisches Erbe: die österreichische Kolonie "Dreizehnlinden", hier "Treze Tílias" genannt.
Eine Stadt im Tiroler Stil. Rot-weiß-rote Geranien grüßen von hölzernen Balkonen, und der Hauptplatz leuchtet in bunter Blumenpracht, ganz wie in der Wildschönau, der Partnergemeinde von Dreizehnlinden. Mittendrin hebt Kolonialvater Andreas Thaler grüßend die Hand: Der einstige Bergbauernbub, leider auch bekennende Antisemit und spätere Landwirtschaftsminister hatte 1933 - in Hoffnung auf ein besseres Leben in Brasilien anstatt im krisengebeutelten Österreich - mit einer kleinen Gruppe Landsleute die österreichische Kolonie aufgebaut. Doch die Bedingungen des Urwalds sind hart. Bis heute, gut 90 Jahre später, werden den Dreizehnlindnern Fleiß und Tüchtigkeit zugesprochen.

An kaum einem anderen Ort in Brasilien wird wohl der Schriftzug der Nationalflagge - Ordem e Progresso, also Ordnung und Fortschritt - so wortgetreu umgesetzt. Zäune und Mauern brauchen die rund 9000 Einwohner - eine brasilianische Melange mit österreichischen und italienischen Wurzeln - nicht, man lebt friedlich miteinander und stellt stolz das kulturelle Erbe zur Schau. Von Lederhose zu selbst gebranntem Schnaps, von Dirndlg'wand bis Speckknödel.

Morgenstund' in Dreizehnlinden. Das Alphorn tönt von der Terrasse des Hotels 13Linden. Die brasilianischen Besucher, die mit Vorliebe hierher zu Besuch kommen, sind entzückt. Endlich das schöne Österreich sehen! Ein Traum vieler, denen der Weg ins ferne Europa zu weit ist. Gespannt umkreisen die Damen den Alphornspieler Conrado, auch er ein Nachkomme von Einwanderern aus der Wildschönau und der Hotelchef. Der Frühstückssaal ist holzgetäfelt und beeindruckt durch ein aufwendig geschnitztes Meisterwerk: Jesus und die zwölf Apostel beim letzten Abendmahl. Das Frühstücksbuffet erinnert verblüffend an das Angebot in einem Tiroler Alpengasthaus, mit Schmankerln wie Speck und Kürbiskernen und anderen regionalen Spezialitäten. "Das hamma uns von int'n abg'schaut", erklärt Conrado Moser stolz.

Er wie auch sein Sohn Conrado Michael sind Holzbildhauer und in ganz Brasilien tätig - ein Kunsthandwerk, für das der Ort im ganzen Land bekannt ist. Der junge Conrado berichtet von seinem bisher größten Projekt: eine 18 Meter hohe schwarze Madonna, die Schutzpatronin Brasiliens. "Dort ist nämlich ein Wunder passiert", erzählt er. "Bei einem Unfall steckte einer unterm Lastwagen fest. Da hat er spontan nach der Madonna g'rufen und kam sofort frei mit seinem Bein." Aus Dankbarkeit beauftragte der Gerettete Conrado mit der Anfertigung einer monumentalen Marienstatue, die am Ort des Mirakels aufgestellt wurde.

Zwei Gehminuten vom Hotel zieht eine vier Meter hohe Christus-Skulptur die Blicke auf sich. Ingrid Thaler, die Urenkelin des Koloniegründers, hat ebenfalls das Handwerk geerbt, und zwar von ihrem Opa. "Mein Großvater war 18 Jahre alt, als er hierhergekommen ist, und er hat die Schnitzeisen schon von Österreich nach Brasilien mitgebracht", berichtet sie stolz. Gut so, in Brasilien gebe es ja ganz wenige Schnitzer und kaum das passende Werkzeug. Eines der Schnitzeisen von ihrem Großvater habe sie heute noch. Und hält es in Ehren. "Die aus Stubai halten ewig!"

Die Tochter eines Österreichers und einer Italienerin betont die Originalität ihrer Arbeit. Statt mit modernen Hilfsmitteln wird hier von Hand geschnitzt. Denn mit Computer oder Maschine sei die Arbeit zwar einfacher, aber, so Thaler: "Das ist dann nicht mehr Kunst. Dann ist es nur mehr eine Holzfigur." Ingrid Thaler unterrichtet auch Holzbildhauerei in ihrem Atelier und schmunzelt manchmal über ihre Schüler, die sich hier mehr anstrengen müssen als im Fitnessstudio. Sie lacht. "Dann sage ich ihnen, ja, für Arbeit braucht man Kraft." Für sie als Frau sei es jedoch nicht schwieriger als für einen Mann. Manchmal brauche sie eben länger, aber das Resultat sei das Gleiche. Als langlebiges Holz für "ewige" Kunstwerke wird bei der Holzbildhauerei meist Zedernholz verwendet. Seine besondere Haltbarkeit im feuchten, brasilianischen Klima und die Widerstandskraft gegen Termiten machen die Zeder zur idealen Wahl, dank ihrer langen Fasern eignet sie sich zudem perfekt für größere Skulpturen.

Recht eindrucksvoll zeigt sich der glockenturmförmige Musikpavillon am Hauptplatz zwischen Rathaus und Andreas-Thaler-Statue, der für ausgelassene Festivitäten genutzt wird, etwa von der lokalen Schuhplattlergruppe. Ein weiteres Tiroler Erbe: die Campanários. Auf den Dächern vieler traditioneller Häuser hier findet man diese kunstvollen, mit Holzschindeln gedeckten Glockentürmchen. Mauro Moser, Brasilianer in zweiter Generation, der das Handwerk seines Vaters übernommen hat, fertigt diese mit großer Sorgfalt an. Und selbst moderne Häuser holen sich den Alpencharme gern in den Garten. "Dann eben mit Blumen und Beleuchtung - passt auch gut." Für einen Auftrag benötigt er rund 20 Tage.

Heute zieht es zwar viele Menschen von auswärts hierher, da es reichlich Arbeit gibt, doch in den 1990er-Jahren war die wirtschaftliche Lage schwierig und Dreizehnlinden noch ein kleiner Bauernort mit nur einem Drittel der heutigen Bevölkerung. Damals zog Mauro - wie viele andere Dreizehnlindner - nach Österreich, um dort Geld zu verdienen. Das investierte er später in den Bau seiner Pension, der "Hospedaria dos Campanários". Probleme mit der Arbeitsgenehmigung gab's keine. "Dreizehnlindner erhalten automatisch die doppelte Staatsbürgerschaft."

Die Dreizehnlindner bewahren ihre Identität. Geschmückte Kühe werden durch den Ort getrieben, die Trachtenkapelle spielt auf, der Volkstanz feiert fröhliche Urständ. Dennoch sehen sich die Menschen hier als Brasilianer. Die Verbindung zu ihren österreichischen Wurzeln zeigt sich in der Architektur und Sprache, aber auch im Handwerk, das über Generationen weitergegeben wird. Insbesondere die Holzschnitzerei ist hier mehr als nur ein Beruf - sie ist Ausdruck von Kultur und Stolz. Zwischen den Palmen lebt so alpines Kunsthandwerk weiter und bleibt ein wertvolles Erbe der Gemeinschaft.