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Maria Montessori: Die andere Seite einer hochgepriesenen Frau

Rein, gesund und schön: Die Ärztin Maria Montessori war tief in desaströse Ideologien verstrickt. Das zeigt eine neue Untersuchung.

Der Name Maria Montessori steht für eine "Lichtgestalt" in der Geschichte der Pädagogik. Beliebig im Internet aufgerufene Portale, denen Seriosität zu unterstellen ist, sprechen von großen Reformen, von einer berühmten Frau des frühen 20. Jahrhunderts, die sich dem Wohl der Kinder verschrieben hat. Es ist die Rede von respektvollem Umgang, von der Achtung vor dem Kind, vom Aufbau einer Persönlichkeit durch aktiv-schöpferische Aktivitäten, von Inklusion und individueller liebevoller Förderung. Wenn ab 7. März ein biografischer Film über das Leben und Wirken Maria Montessoris in die Kinos kommt, dann wird es darin vorrangig um solche positive Ansätze gehen.

Doch große Lichter werfen mitunter tiefe Schatten. Mit dieser dunklen Seite hat sich Sabine Seichter, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg, auseinandergesetzt. Das Ergebnis ihrer wissenschaftlichen Arbeit über Maria Montessori ist nun als Buch erschienen. Sabine Seichter hat sich mit den Schriften der italienischen Biologin und Ärztin beschäftigt, mit ihren Reden, die sie weltweit hielt, mit dem Inhalt ihrer Ausbildungskurse, mit dem Gedankengut, das sie tief in den Ideologien ihrer Zeit verankert sieht. Maria Montessori wurde 1870 in der Provinz Ancona geboren. Sie interessierte sich früh für Naturwissenschaften und Medizin, studierte in Rom und wurde Ärztin. Sie starb 1952 in den Niederlanden.

Maria Montessori, Anhängerin ihres Unterstützers Benito Mussolini, legte ihre faschistischen Überzeugungen unter anderem in ihrem Hauptwerk von 1910 unter dem Titel "Antropologia Pedagogica" dar, und sie ist - wie Sabine Seichter berichtet - "nie davon abgerückt", auch nicht nach den grauenhaften faschistischen Geschehnissen in Deutschland und Italien. Montessoris Arbeit habe lebenslang dem Bemühen um eine "Höherentwicklung des Menschen, genauer besehen: der europäisch-weißen Rasse", gegolten sowie der dafür in deren Augen nötigen "Ausmerzung alles Bösen, Kriminellen, Schwachen und Minderwertigen". Als Montessori als Assistenzärztin in der Psychiatrischen Klinik in Rom arbeitete, schrieb sie: "Die Idioten und die intellektuell und moralisch Imbezillen sind die schädlichen Degenerierten." Montessori habe an der Umsetzung ihres Traums vom neuen Menschen gearbeitet, der für sie perfekt, rein, von ebenmäßiger Gestalt und gesund an Körper, Geist und Seele sein sollte.

Menschen verwandeln und Genies hervorbringen

Erziehung sei für sie das Mittel zu dieser Höherentwicklung gewesen. Sie sollte Menschen verwandeln und Genies hervorbringen. Vollkommenheit und Perfektion waren für sie Spiegel der Seele und der Intelligenz. In den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften sah sie Möglichkeiten, diesen Menschen zu formen, der gemäß dem reformierten Denken der Zeit der Gesellschaft, dem Staat und der Wirtschaft nützlich sein sollte. Die zudem um 1900 populär gewordene "Rassenkunde" stieß laut Sabine Seichter auf ein gesellschaftliches Bedürfnis, Unterschiede zu bestimmen. Das Klassifizieren etwa in normal und anormal, nützlich und schädlich, überlegen und minderwertig, das Einteilen, Bestimmen, Selektieren, Vermessen wurde durch Fortschritte in Statistik, Demografie, Zoologie, Medizin, Anthropologie und Biologie beflügelt. Dazu kam eine verbreitete Angst vor "Degeneration" und Kulturverfall, geschürt von sozialen Umbrüchen im Zuge der industriellen Revolution, des Kapitalismus und der Wirren der Ersten Weltkriegs. Viele Zeitgenossen erkannten die Notwendigkeit, etwa mit Besserungs- und Züchtigungsmethoden, mit Kinderarbeit, Analphabetismus aufzuräumen. Allerdings vielfach nicht - wie Sabine Seichter erklärt - aus humanistischen, philanthropischen oder karitativen Überlegungen heraus, sondern um leistungsstarke qualifizierte Arbeiter für den wirtschaftlichen Aufschwung heranzubilden. Maria Montessori habe sich solchen Überlegungen angeschlossen. "Das Kind", so schreibt sie selbst, könne nach dem gehorsamen Ausführen der von ihr geschaffenen Übungen "jederzeit den erhaltenen Befehl ausführen". Von freiheitlicher, individueller und inklusiv angelegter pädagogischer Konzeption sei Montessoris Erziehungsgedanke weit entfernt gewesen. Sabine Seichter ist nicht die erste kritische Stimme zu Maria Montessori. Sie weist am Ende des Buches auch darauf hin, dass der Traum vom perfekten Menschen noch nicht ausgeträumt ist. Mit all seinen möglichen fatalen Folgen.

Sabine Seichter: "Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind", Beltz-Verlag 2024.