Er ist elf, und sein Mountainbike bedeutet ihm alles. Doch seit der Bub mit seinem Freund auf dem Sportplatz zusammengekracht ist, geht nichts mehr: Das Vorderrad hat eine Acht, der Seilzug der Gangschaltung ist gerissen. Mit hängenden Schultern steht er vor einer Werkstatt am Rande der Altstadt von Marrakesch. "Holland Bicycle Atelier" steht in großen Buchstaben über dem Eingang. Seine Eltern seien arm, könnten die Reparatur nicht bezahlen, jammert er. "Dann lass uns mal sehen, was wir für dich tun können", sagt eine junge blonde Frau in fließendem Französisch und bugsiert den Schüler mitsamt seinem lädierten Bike in die schattige Halle.
Cantal Bakker ist 33 und stammt aus Den Haag. Mit 24 kam sie als Touristin erstmals nach Marrakesch. Wie die meisten Urlauber erkundete sie die Stadt zu Fuß und wurde ständig von Händlern angesprochen. Also besorgte sie sich ein Fahrrad und stellte überrascht fest, wie exotisch sie dadurch auf viele Einheimische wirkte. "Sie winkten mir zu, wenn ich vorbeiradelte, wenn ich anhielt, kamen sie heran, um zu plaudern." Anstatt ihr Souvenirs anzudrehen, wollten einige ihr das Rad sogar abkaufen! "Ich fand heraus, dass viele Marokkaner denken, dass Radfahren nur für arme Menschen ist." Indem sie - eine "reiche" Touristin, eine Europäerin - es benutzte, wurde es aufgewertet.
Und noch eine Beobachtung machte die Kunststudentin: Viele junge Menschen haben keinen Job und damit keine Perspektive. Statistisch gesehen ist in Marokko jeder fünfte Einwohner zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Wieder zu Hause, entwickelte Cantal den Plan für ein Projekt, das jungen Menschen in Marrakesch eine Ausbildung und damit bessere Zukunftschancen ermöglichen soll. Gleichzeitig wollte sie erreichen, dass die "Marrakchis", die Einwohner Marrakeschs, Räder als eine umweltfreundliche Alternative zu Autos und Mopeds erkennen. Sie sammelte Unterstützer und wenig später waren rund 200 ausrangierte Räder aus Den Haag unterwegs nach Nordafrika. Denn auch Recycling gehört zu ihrer Philosophie: Die gesamte Einrichtung der Werkstatt ist secondhand, ebenso wie alle Räder, die Cantal und ihr Team reparieren und wieder aufmöbeln.
Heute, acht Jahre nach der Gründung, sind bei Pikala - so heißen Fahrräder im marokkanischen Dialekt - rund 30 junge Marokkanerinnen und Marokkaner fest angestellt. Sie arbeiten als Touristenführer und Mechaniker oder sind im Marketing tätig. Rund 60 weitere haben dort eine Ausbildung oder ein Praktikum absolviert. "Pikala ist eine Brücke in die Arbeitswelt", sagt Cantal.
Manche bieten ihre Mitarbeit unentgeltlich an, so wie Amina Boutib, eine Englischstudentin. "Bevor ich zu Pikala kam, wusste ich nichts über andere Kulturen. Hier habe ich gelernt, mit Menschen aus anderen Ländern umzugehen und meine Sprachkenntnisse zu perfektionieren. Das wird mir nach Abschluss des Studiums bei der Jobsuche sicher helfen."
Während Amina die Räder für die nächste Führung vorbereitet, doktert ihr Kollege Jamal Bahlouli in der Werkstatt an dem Bike des jungen Pechvogels herum. Er bindet seine Dreadlocks am Hinterkopf zusammen und nimmt einen Schraubenschlüssel vom wohlsortierten Werkzeugboard. Dann zeigt er dem Schüler, wie er das Vorderrad aus dem Rahmen lösen kann.
Ein knappes Dutzend Halbwüchsige wuselt zwischen den Mechanikern herum. "Ein Mal in der Woche steht die Werkstatt offen für Kinder", erklärt Jamal, der bei den Kindern besonders gut ankommt, wahrscheinlich, weil er ein bisschen wie der karibische Pirat Jack Sparrow aussieht. Die Kids können ihre Fahrräder dann kostenlos durchchecken oder reparieren lassen. Manche kämen nur zum Schauen, denn sie besäßen kein Rad, sagt Jamal. "Denen bringen wir dann im Park nebenan das Fahrradfahren bei. Das ist immer ein Riesenspaß." Auch Kinder mit einer geistigen Behinderung kommen als Gäste. "Die sind total happy, wenn sie ein Fahrrad nur einmal schieben dürfen."
Absteigen und schieben müssen derweil auch die Urlauber, die mit Issam Facil zur Stadtrundfahrt gestartet sind - zumindest ab und zu. Denn in den Souks, den Marktgassen der Altstadt, kann es eng werden. Doch die Touristen gewöhnen sich schnell an die gefühlt chaotische Verkehrssituation, die vor allem eines erfordert: Mut zur Lücke! "Yalla, yalla!", was so viel heißt wie "Auf geht's", ruft Issam, wenn Überholen gefahrlos möglich ist.
Routiniert lotst der 27-Jährige die Urlauber über palmengesäumte Alleen, vorbei an exotischen Gärten und herrschaftlichen Palästen, während Kollegin Amina das Schlusslicht macht. Am Horizont leuchten die Gipfel des Atlasgebirges - noch schneebedeckt. Auch das kunstvoll verzierte Minarett der Koutoubia-Moschee überragt das Häusermeer. Kein Gebäude darf höher sein. Bei einer Trinkpause auf der Dachterrasse im hippen Café Clock im südlichen Kasbah-Viertel macht die "Rote Stadt" ihrem Namen alle Ehre: Marrakeschs historische Mauern sind aus rotem Lehm erbaut, die jetzt im Licht der gleißenden Mittagssonne besonders leuchten.
Während die Besucher aus Europa sich von Issam und Amina so manchen Geheimtipp zeigen lassen und die Mechaniker in der Halle eine Teepause einlegen, schmiedet Cantal neue, noch ambitioniertere Pläne. Denn wenn es nach ihr geht, wird Marokko in naher Zukunft das erste Fahrradland Afrikas sein! Seit vergangenem Oktober gibt es auch im populären Badeort Agadir am Atlantik eine Pikala-Niederlassung, in diesem Sommer hofft Cantal, auch in der marokkanischen Hauptstadt Rabat mit einem Pikala-Projekt durchstarten zu können. "Wir werden dort zunächst Workshops zur E-Bike-Mechanik und dann auch Ökotourismus-Programme anbieten", verkündet Cantal, wohl wissend, dass man in Marokko nicht nur im Verkehr, sondern auch in geschäftlichen Bereichen mit Gelassenheit besser vorankommt als mit blindem Aktionismus.
"Die Marokkaner haben ein anderes Zeitgefühl als wir Europäer, und die Behörden verlangen Genehmigungen für alles. Aber ich weiß das inzwischen", sagt sie augenzwinkernd. "Also mache ich nicht mehr nur einen Plan, sondern auch Plan B, C und D. Es kommt immer völlig anders als das, was du erwartet hast. Aber das macht auch Spaß und ist Teil des Abenteuers."
DAS PIKALA PROJEKT
Wer in Marrakesch urlaubt und das Projekt Pikala unterstützen möchte, kann
1. ein Fahrrad mieten für 80 Dirham am ersten Tag (7,60 Euro), 50 Dirham (4,80 Euro) für jeden weiteren Tag. Die Räder können abgeholt oder an eine Adresse geliefert werden, auch Tandems und Lastenfahrräder stehen zur Verfügung.
2. eine geführte Fahrradtour buchen. City-Rundfahrt, rund 3 Stunden, mit einheimischem Guide und Trinkpause im Café Clock, 250 Dirham (23,80 Euro). Ebenfalls auf dem Programm: eine Wüsten-Tour mit Besuch einer Oase für 350 Dirham (33,30 Euro).
TUI Care Foundation unterstützt das Projekt und hilft bei der Ausbildung der jungen Menschen, www.tuicarefoundation.com




