Gut, niemand würde nur für ein paar Mozartkugeln nach Salzburg reisen oder wegen eines Glaserls Wein zum Heurigen nach Wien. Auch nicht wegen einer Tasse Tee an die deutsche Nordseeküste nach Ostfriesland. Aber wenn man schon mal da ist …
Tee, Kaffee? Ein Bier oder ein Wein? Für Heidrun Dirks stellt sich die Frage "Tee oder wat?" erst gar nicht. Die Forderung der Französischen Revolution - "Liberté!" - hat die Ostfriesin auf "Lieber Tee!" umgedeutet und schließt sich ihr an. Es ist 16 Uhr. "Teetied", Teezeit. In einer Teestube im Binnenstädtchen Leer gießt die blonde Frau aus einer vorgewärmten Porzellankanne das Nationalgetränk der Küstenbewohner in eine filigrane Tasse auf den süßen "Kluntje", den Kandiszucker.
Wenn Heidrun Dirks vom Land in die Stadt kommt, ist so ein Besuch in einer Teestube obligatorisch. Jetzt mit der kleinen Milchkelle und kreisenden Bewegungen etwas Obers auf den Teespiegel geben. Immer gegen den Uhrzeigersinn - das soll für einen Moment die Zeit anhalten. Aber nicht umrühren! Nun warten, bis das Obers nach unten sinkt. Wie von Zauberhand steigen sie plötzlich auf, die "Wulkje", die Wölkchen. Dass die Vereinten Nationen sogar einen Internationalen Tag des Tees ausgerufen haben, nimmt die 61-Jährige mit Schulterzucken. "Hoch die Tassen" beherzigen Ostfriesen immerhin 365 Tage im Jahr. Und das mehrmals täglich.
Die Trinkpause ist ein Brauch, der Genuss und Geselligkeit mit festen Ritualen folgt und wegen seiner identitätsstiftenden Funktion von der Unesco als immaterielles Kulturerbe anerkannt wurde. Heidrun Dirks nimmt die Kanne vom Stövchen, einem kleinen Untersatz, und lässt den kantigen Kandis zum zweiten Mal in der Tasse knistern. Als Beigabe empfiehlt die Kellnerin Butterkuchen oder ein cremiges Stück Ostfriesentorte. Die Kuchenwahl ist Geschmackssache, die Wahl der Teesorte für jeden Ostfriesen aber fast schon Weltanschauung. Die "echte ostfriesische Mischung" wird ebendort nämlich allein von vier alteingesessenen Firmen hergestellt. Nur wenn der Tee in Ostfriesland gemischt wird, darf er sich als solch echte Mischung bezeichnen. Unterschiedliche Kompositionen aus Assam-Tee, Darjeeling-, Ceylon- und Javasorten vereinen sich zu einem herb-aromatischen kräftigen Geschmack. So wie Fußballfans nicht immer einig sind, soll es gelegentlich auch in Familien Unstimmigkeiten wegen der bevorzugten Teesorte geben. "Nee, dat is keen Seemannsgarn", bestätigt die Teekennerin. Mit der Teekultur werde manchmal sogar die favorisierte Geschmacksvariante von Generation zu Generation weitergegeben.
Wieder knistert das heiße Getränk in der dünnwandigen Tasse. Als Teesieb und Kluntjezange zum Einsatz kommen, lässt die Friesin den silbernen Löffel wieder links liegen. Der sei nämlich nicht zum Umrühren, sondern vielmehr eine Art "Stoppschild". Jenseits von Teestuben sei es bei privaten Einladungen üblich, den Löffel erst einmal zu ignorieren. Erst später stellt man ihn in die Tasse und signalisiert damit: danke, bitte keinen Tee mehr! Dieser Wink sollte aber frühestens nach der dritten Tasse zum Einsatz kommen.
"Dree is Oostfresenrecht" - "drei ist Ostfriesenrecht", lautet eine Order. Alles andere wäre unhöflich. Gut. Aber warum nicht umrühren? Einerseits um die Geschmacksfolge wahrzunehmen. Erst das cremige Obers, dann der herbe Tee und schließlich der süße Bodensatz, klärt Heidrun Dirks auf. Aber eigentlich komme die Zurückhaltung aus einer Zeit, als Kandis teuer war und für mehrere Tassen reichen musste. Die Friesin nestelt aus ihrer Handtasche ein Handy. Ein Foto zeigt ein frühgotisches Backsteingebäude. Ein Rathaus? "Dat wär mal so", antwortet sie: Das heutige Teemuseum in Norden vermittle die ganze Welt des Tees. Bereits im Stehen nimmt sie den letzten Schluck aus der Tasse. "Mien Bus fohrt gliek." Abends werde sie dann für die Familie kochen. "Es gibt Tee", sagt sie und lacht. Klar, denn selbst ein "Koppke-Tee" am Abend raubt Ostfriesen keinesfalls den Schlaf.
Auf dem Weg zum Bahnhof begegnet Flaneuren die Skulptur "Teelke mit der Tasse Tee". Das "Teewiefke", also Teeweib, erinnert an deutsche Nachkriegsjahre, als der Kohlebergbau boomte. Zu jener Zeit versammelten sich oft seltene Gäste an Ostfrieslands Bahnstrecken. Für die harte Arbeit untertage bekamen die Kumpel im Ruhrgebiet Extrarationen Tee. Die teeverwöhnten britischen Besatzer meinten, den Männern Gutes zu tun. Die Bergarbeiter fanden aber keinen Geschmack an dem Gebräu. Also machten sich deren Frauen ins friesische Städtchen Norden auf, wo Tee auf dem Schwarzmarkt ein begehrtes Luxusgut war, und tauschten die Blätter bei Bauern gegen Butter, Mehl oder Speck.
Nach 50 Minuten Fahrzeit von Leer steht in Norden nahe der mächtigen Ludgerikirche das Ostfriesische Teemuseum. In der Küchenstube warten Besucher auf eine Teezeremonie. Die Teestunde sei für Ostfriesen wie "Wellness", erfahren sie von Gerta Endelmann, und dass im Durchschnitt jeder Ostfriese pro Jahr knapp 300 Liter Tee trinke. In ganz Deutschland betrage der Pro-Kopf-Verbrauch lediglich 72 Liter. Als auch der letzte Teilnehmer Handy und Kamera beiseitelegt und zur Tasse greift, konzentriert sich die Expertin wieder ganz auf das Prozedere der "Teetied". "Tee oder wat?" ist auch hier keine Frage.
INFORMATION:
Ostfriesisches Teemuseum, Norden, www.teemuseum.de
Bünting-Teemuseum, Leer, www.buenting-teemuseum.de
Auskünfte: www.ostfriesland.travel.de


