Ein Spaziergang beginnt am besten bei der East Side Gallery an der Mühlenstraße. Kurze Zeit nach dem Fall der Mauer entstand dort die längste Open-Air-Galerie der Welt. 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern bemalten auf 1,3 Kilometern die Mauer und gaben ihr ein neues, gutes Gesicht. Bestens bekannt, auch bei Graffitilaien, ist Dmitri Vrubels "Bruderkuss" zwischen Breschnew und Honecker. Wer noch nicht genug hat, besucht Kreuzberg. Dort sprießen bunte Farben und Botschaften besonders rund um die Oranienstraße und den Görlitzer Park. Im liberalen Trendviertel Prenzlauer Berg wurde die Streetart teilweise legalisiert - so bieten Hinterhöfe wie der vom "Haus Schwarzenberg" nahe den Hackeschen Höfen Flächen für Graffiti an. Wer nun einen Drink braucht, besucht die benachbarte Bar Eschschloraque, wo mit etwas Glück auch noch ein Konzert stattfindet.
Spaybilder jenseits der Athener Marmorsäulen
Wo sollte Streetart in allen Facetten erblühen, wenn nicht in der Wiege von Demokratie, freier Rede (für männliche Bürger) und Kultur? Auch heute findet sich die teils recht deutliche, teils kunstvoll verbrämte freie Meinungsäußerung in Athens Stadtvierteln. Spannend ist, dass sie recht unterschiedliche Erscheinungsformen hat. Im Studentenviertel Exarchia ist beinahe jede Wand mit zum Teil zornigen und unverblümten Kommentaren zur Gesellschaft und ihren Problemen versehen. Ruhiger geht es im Viertel Psirri neben dem Monastiraki-Platz zu. Das ehemalige Arbeiterviertel mit den kleinen Werkstätten, Tavernen und alternativen Bars ist heute ein Zentrum für urbane Kunst. Graffiti, Murals und kreative Botschaften von lokalen und internationalen Künstlern wechseln sich ab. Die Motive sind nicht ganz so schreiend wie in Exarchia, dafür humorvoller und zum Teil auch poetisch. Erschöpft von all den Eindrücken? Hunger auf etwas Unkompliziertes? Dann auf, etwa in den durchaus proteinlastigen Butcher Shop. Dort gibt es die Burger ganz ohne Botschaft.
Dann wagen wir den Sprung über die Adria, nach Rom. Wer sich an antiken Monumenten, Kirchen und Ruinen sattgesehen hat, besucht das ehemalige Industrieareal Ostiense, wo Künstler riesige Murals auf Fabrikfassaden hinterlassen haben. Dort befindet sich auch das Sozialzentrum Città Ecosolidale in der Via del Porto Fluviale, Ecke Via del Gazometro. Es gilt als sogenanntes smogfressendes Kunstwerk, weil es mit einer speziellen Farbe produziert wurde, die Schadstoffe in der Luft reduzieren soll. Rom wäre indessen nicht Rom, wenn es nicht auch "seiner" Wölfin huldigen würde. Im angrenzenden Viertel Testaccio schmückt "La Lupa" auf 30 Metern Höhe eine gesamte Fassade.
Nicht zuletzt, da aus diesem Viertel auch "il bimbo d'oro", das Goldkind des römischen Fußballs Francesco Totti, stammt, finden sich dort Hommagen an "La Roma". Auch der römische Sänger und Barde Lando Fiorini wird mit einem Mural in Testaccio geehrt. Wie aus einer nicht ganz so pittoresken Gegend viel Atmosphäre entstehen kann, zeigt sich in der Via del Trullo: Dort haben lokale Künstler die grauen Fassaden mit Gedichten, Gesichtern und großflächigen Wandbildern verwandelt und bewiesen, dass Grau nicht Grau bleiben muss, sondern eine Leinwand für Hoffnung und Freude sein kann. Eine Pasta Cacio e Pepe in der Trattoria da Augusto in Trastevere auf dem Rückweg beruhigt die revolutionär erhitzten Gemüter.
Zurück über die Alpen und nach Westen. Die eleganten Boulevards von Paris mit ihren glitzernden Geschäften lassen ebenso wenig wie die symmetrische Architektur und die gepflegten Gärten vermuten, dass die Stadt auch anders kann. Bunt, wild und laut geht es auf den Wänden zu, und ähnlich wie in Athen haben die Kunstwerke je nach Viertel andere Charaktere. Im südöstlich gelegenen 13. Arrondissement rund um die Rue Jeanne d'Arc oder in den Passagen von Montmartre haben Künstler im Rahmen des Projekts "Boulevard Paris 13" ganze Hochhausfassaden in Open-Air-Galerien verwandelt.
In Montmartre, dem 18. Arrondissement rund um Sacré-Cœur, gibt es kleine Passagen, Stiegen und Plätze, die mit Stencils und Figuren geschmückt sind. Besonders schön sind die Rue des Trois Frères und die Rue Véron. Die Je-t'aime-Mauer am Place des Abbesses ist zwar streng genommen keine "echte" Streetart, aber wer schon da ist und romantisch veranlagt, sollte sie nicht verpassen. Abwechslungsreich geht es an der Rue Saint-Maur im Viertel Oberkampf im 11. Arrondissement zu. Alle zwei Wochen wird die 24 Quadratmeter große "Le M.U.R." von einem neuen Künstler gestaltet - vive la variété! Und auch die Seine ist inzwischen nicht mehr nur Heimat der malerischen Hausboote und Bateaux Mouches, sondern eine Ufergalerie. Anschließend laden Restaurantboote oder Pop-up-Kneipen am Ufer zum malerischen Abendausklang ein.
Die letzte Etappe führt uns über den Ärmelkanal. Um Streetart-Superstar Banksy ranken sich zahlreiche Legenden und Mythen. Seine Wiege steht zwar in Bristol, richtig Schwung aufgenommen haben seine Werke und sein Ruhm jedoch in der britischen Hauptstadt. Um sie genauer zu betrachten, eignet sich am besten ein Spaziergang durch das Shoreditch-Viertel im East End. Von kleinen Stickern bis hin zu fassadenfüllenden Werken ist alles zu finden. In der Brick Lane und ihren Seitenstraßen kommen auch andere Künstler "zu Wort". Banksy-Fans dürfen den "Banksy Tunnel" unter der Waterloo Station nicht versäumen.
Dort befindet sich auch eine legalisierte Graffiti-Zone mit zum Teil täglich wechselnden Werken. Weiter geht es im Norden Londons, in Camden, das bekannt für seine alternative und aktive Kultur ist. Dort sind fast alle Fassaden, Brücken und Hinterhöfe geschmückt.
Besonders aktiv ist die Szene rund um den Camden Lock Market und den Kanal. Ferdinand Estate, Harmood Street und Hawley Mews bieten eine wahre Explosion an Kreativität und Kunstfertigkeit. Eine ähnliche Entwicklung scheint auch in East London gewünscht. Das ehemalige Industrieviertel hat sich heute der Kreativität verschrieben und bietet riesige Freiflächen für Murals - eine Sixtinische Kapelle für Streetart-Künstler sozusagen. Auch dort ist der Kanal Bühne für beeindruckende Arbeiten. Erschöpfte Bummler freuen sich anschließend über die nicht weniger abwechslungsreiche Food-Szene in East London, zum Beispiel das Barge East, eine historische niederländische Barke mit kreativer Küche, ähnlich bunt wie die Streetart.